Arbeitszeiten, die zum Leben passen

Arbeitszeitkampagne der IG Metall

„Dein Feierabend hat angerufen. Er fängt schon mal ohne Dich an“, titelt ein Plakat der IG Metall zur Arbeitszeit. Der Slogan beschreibt, was heute für viele Vollzeitbeschäftigte Realität ist: Die Arbeitszeiten laufen in vielen Branchen aus dem Ruder. Sie werden länger, flexibler und ungesünder.

Beschäftigte in Deutschland arbeiten heute so flexibel wie nie zuvor. Langes Arbeiten, am Wochenende, im Betrieb oder am Küchentisch – das ist für viele Arbeitnehmer*innen Realität. Der Zugriff von Unternehmen auf Arbeits- und Lebenszeit wird immer umfassender. In allen Arbeits- und Wirtschaftsbereichen nimmt die Arbeitskultur der ständigen Verfügbarkeit zu. Es geht um Machtfragen: Wer bestimmt über die Zeit? Wer bestimmt, wann und wie lange wer arbeitet? Wer bestimmt über Teilzeit oder Vollzeit, darüber, wie Arbeit und Privatleben vereinbart werden können oder ob der Traum von der Weltreise vor der Rente Wirklichkeit werden kann? Und es geht um Verteilungsfragen. Die Flexibilisierung der Produktion hat zu enormen Produktivitätssteigerungen in der Wirtschaft geführt. Wer profitiert von diesen Flexibilisierungsgewinnen? Vergolden sie nur die Bilanzen der Unternehmen oder kommen sie den Beschäftigten und der Gesellschaft zugute?

Einstieg in eine neue Arbeitszeitpolitik

Das Ziel der IG Metall ist, als Gewerkschaft wieder eine handlungsfähige Gegenmacht in Sachen Arbeitszeit für die Beschäftigten zu sein. Nach Jahren arbeitszeitpolitischer Stag-nation – oder noch schlimmer: des arbeitszeitpolitischen Rückschritts – hat die IG Metall das Thema Arbeitszeit seit 2016 mit einer großen Kampagne und auch in der Tarifpolitik wieder prominent auf die Tagesordnung gesetzt. Die Beschäftigten müssen wieder mehr Selbstbestimmung über ihre Zeit bekommen. Flexibilität in der Arbeitswelt darf keine Einbahnstraße sein. Die Beschäftigten sind bereit, flexibel zu arbeiten. Aber Flexibilität darf nicht nur der Arbeitgeberseite nützen. Wir brauchen eine neue Arbeitszeitkultur, in der die persönlichen Zeitinteressen der Beschäftigten mehr Gewicht gegenüber den Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeberseite haben.
Die IG Metall hat in einem langen Prozess diskutiert, ob sie eine Tarifforderung zu Arbeitszeit stellen sollte. Dabei hat sich gezeigt: Die Arbeitszeitrealitäten von verschiedenen Beschäftigtengruppen sind sehr unterschiedlich. Um Arbeit und Leben besser unter einen Hut bringen zu können, wünschen sich die Beschäftigten mehr individuelle Spielräume in ihrer Arbeitszeitgestaltung – im Alltag und im Lebensverlauf.
Anfang 2018 hat die IG Metall in ihrem Tarifabschluss für die Metall- und Elektroindustrie Bausteine für stärker selbstbestimmte Arbeitszeiten im Tarifvertrag vereinbart. Sie hat individuelle Ansprüche für Beschäftigte vereinbart, damit diese ihre Arbeitszeiten stärker an ihren persönlichen Interessen und Bedürfnissen ausrichten können. Der erste Baustein ist die verkürzte Vollzeit auf bis zu 28 Stunden. Der zweite Baustein ist das tarifliche Zusatzgeld, das auch in Zeit genommen werden kann. Das Interesse der Beschäftigten ist hoch, diese neuen Möglichkeiten ab 2019 zu nutzen. Sie in der Praxis umzusetzen wird eine Herausforderung.

Gesetzlicher Rahmen für mehr Selbstbestimmung

Tarifliche und betriebliche Lösungen, die auch den Interessen der Beschäftigten Rechnung tragen, sind möglich. Die Arbeitszeiten gesetzlich zu deregulieren, wie es von den Arbeitsgeberverbänden immer wieder gefordert wird, ist überflüssig. Die Frage muss viel eher lauten: Welche neuen Schutzrechte brauchen Beschäftigte, die hochflexibel und immer mobiler arbeiten? Die Arbeitswissenschaft zeigt, dass ein höherer Grad an Selbstbestimmung über Arbeitsorganisation und -zeiten Belastungen reduzieren kann. Werden die Beschäftigten von morgen die Rechte und Ressourcen bekommen, um die höhere Beanspruchung durch mehr Selbstbestimmung auszugleichen, die moderne Arbeitsformen wie Homeoffice, Arbeiten von unterwegs oder zu atypischen Zeiten hervorrufen?
Und nicht zuletzt: Ist genug Personal an Bord, damit die Arbeit auch in der vorhandenen Zeit erledigt werden kann, ohne dass Gesundheit und Privatleben darunter leiden müssen? Die Interessenvertretung der Beschäftigten muss mehr Mitbestimmung bei der Bemessung des Personalbedarfs bekommen. Denn heute ist das Personal zu oft zu knapp bemessen, sodass die Belastung für die Beschäftigten und Berge an Überstunden programmiert sind.
Die IG Metall hat begonnen, Arbeitszeiten neu zu gestalten. Diesen Weg will sie auch als gesellschaftspolitischen Ansatz fortsetzen, damit Arbeitszeiten in Zukunft gerecht, sicher und selbstbestimmt gestaltet werden können.


Sophie Jänicke
Gewerkschaftssekretärin in der Tarifabteilung beim Vorstand der IG Metall mit dem Schwerpunkt Arbeitszeit

Foto: FemmeCurieuse / photocase.de

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