Türkei: Eine akademische Freiheit gibt es nicht mehr

Wissenschaft und Forschung in der Türkei

Als Wissenschaftler*in und Forscher*in in der Türkei zu arbeiten war schon immer, je nach Fachdisziplin und politischer Einstellung, nicht ganz unproblematisch – mal mehr, mal weniger. Doch in den letzten Jahren und vor allem nach dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Situation enorm zugespitzt und zwang zahlreiche Wissenschaftler*innen zur Flucht – so auch Judit. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Izmir arbeitet aktuell an der Universität Bielefeld.

Es wird geschätzt, dass in der Türkei in den vergangenen Monaten mehr als 7.000 Hochschulangestellte entlassen wurden. 400 Professoren*innen verloren bereits vor dem Putschversuch ihren Job, weil sie einen Friedensappell unterzeichnet hatten. Zudem wurden 15 Hochschulen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung geschlossen.

Der Vorwurf: Propaganda für eine Terrororganisation und Hochverrat

Eine der betroffenen Universitäten ist die noch recht neu gegründete Gediz Universität in Izmir. Sieben Tage nach dem Putschversuch verloren dort über Nacht plötzlich 7.000 Studierende und 700 Angestellte, die unter Generalverdacht standen, ihren Studien- beziehungsweise ihren Arbeitsplatz. Unter ihnen war auch die 34-jährige Judit, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Psychologie und Unterzeichnerin des Friedensappells. Sie lebt und arbeitet mittlerweile als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld und wird vermutlich nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.
„So einen Tag vergisst man nicht,“ erinnert sich Judit. „Die Schließung stand am Samstag, den 23. Juli 2016 in der Zeitung – ohne vorherige Ankündigung, ohne Vorwarnung. Am gleichen Tag kam auch die Polizei in die Uni und machte alles dicht.“ Wegen der überfallartigen Schließung hatten weder Studierende noch Beschäftigte die Möglichkeit, Forschungsergebnisse, private Unterlagen oder Bücher mitzunehmen. Niemand außer den vermeintlichen Ermittler*innen durfte die Universität betreten. „Später stellte sich heraus, dass während der Schließung alle Unterlagen, Dokumente und Laptops durchsucht und teilweise konfisziert wurden“, berichtet Judit. Erst nach zwei Monaten hatten die Universitätsangehörigen die Möglichkeit, ihre noch übriggebliebenen, privaten Dinge zu holen. Da war Judit allerdings schon in Deutschland: „Mir war nämlich schnell klar, dass mein Mann und ich als praktizierende Wissenschaftler*innen in der Türkei keine Chance mehr haben werden. Als Unterzeichner*innen der Petition haben wir uns ohnehin, aus Sicht der türkischen Regierung, strafbar gemacht. Der Vorwurf lautet Propaganda für eine Terrororganisation und Hochverrat.“
In der besagten Petition, die auch Judit und ihr Mann im Januar 2016 unterzeichnet haben, kritisieren 2.212 Wissenschaftler*innen das Vorgehen der Türkei in den Kurdengebieten. Sie fordern unter anderem, den Krieg in der kurdischen Region zu beenden, die Friedensverhandlungen mit den Kurden wieder aufzunehmen und internationalen Beobachter*innen den Zugang in die Regionen zu erlauben. Es hagelte daraufhin Disziplinarverfahren. Universitätsleitungen wurden unter Druck gesetzt, den Unterzeichner*innen zu kündigen, Festnahmen, Reisepasssperren, Hausdurchsuchungen und Suspendierungen folgten. Die Vorwürfe gegen die „Akademiker*innen für Frieden“ reichen von Vaterlandsverrat bis hin zu Propaganda für eine Terrororganisation, womit die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK gemeint ist, gegen die die türkische Armee seit geraumer Zeit vorgeht.

Der Weg zurück in den Job und ins Studium bleibt versperrt

Die Folgewirkungen waren enorm, schildert Judit: „Alle Unterzeichner*innen hatten sich quasi schuldig gemacht. Viele wurden gekündigt oder mussten gekündigt werden, weil den Universitäten sonst unterstellt wurde, diese Petition zu unterstützen. Diejenigen, die gekündigt wurden, standen vor einem großen Problem.“ In der Türkei gibt es eine staatliche Stelle, die sich „Sosyal Güvenlik Kurumu“ nennt –
übersetzt: „Anstalt für Soziale Sicherheit“. Dort haben alle, die einer Arbeit nachgehen, auch eine Sozialversicherungsnummer und damit verknüpft eine eigene Identitätsakte beziehungsweise Identitätsnummer. Über diese Nummer können die entsprechenden staatlichen Einrichtungen in der gesamten Türkei die digitale Personenakte einsehen.
Judits Arbeits- und Lebenssituation änderte sich nach der Unischließung drastisch: „Mir wurde die Arbeitserlaubnis entzogen. Diese und weitere Informationen – zum Beispiel, warum ich angeblich gekündigt wurde – stehen ebenfalls in dieser digitalen Personenakte. Für mich und für tausende andere Kollegen*innen bedeutet dies, dass die Arbeitsaufnahme als Wissenschaftler*innen in der Türkei aktuell so gut wie unmöglich ist. Keine Hochschulleitung geht das Risiko ein, eine Person wie mich einzustellen.“
Eine der wichtigsten Stellen, über die Wissenschaftler*innen Förderungen, Stipendien oder ähnliches erhalten, ist die Türkische Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Türkiye Bilimsel ve Teknolojik Araştırma Kurumu, kurz: TÜBITAK). Sie ist vergleichbar mit der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), steht jedoch unter staatlichem Einfluss. Nach dem Putschversuch wurden auch TÜBITAK-Büros von der Polizei durchsucht und viele Angestellte entlassen. „Eigentlich nur aus einem Grund“, erzählt Judit, „nämlich um staatstreues Personal einzusetzen und so die Förderung und die Stipendien zu kontrollieren.“ Entlassene oder angezeigte Wissenschaftler*innen und Unterzeichner*innen der Petition erhalten aktuell von TÜBITAK keine Förderung mehr. Bestehende Förderungen von Promovierenden oder Stipendiat*innen wurden ad hoc beendet. Judits Urteil fällt ernüchternd aus: „Im Großen und Ganzen gibt es in der Türkei keine akademische Freiheit mehr.“
Erschwerend für die türkische Hochschullandschaft kommt hinzu, dass durch einen Erlass seit Oktober 2016 die Rektor*innenwahlen an den Universitäten faktisch abgeschafft wurden. Die Rektor*innen dürfen seitdem ohne universitäres Mitspracherecht vom Präsidenten Recep Tayyip Erdogan direkt ernannt werden. Ein von der jeweligen Hochschule gestellter Rat kann zwar eine Liste mit Vorschlägen vorlegen, die jedoch ohne Begründung vom Präsidenten abgelehnt werden kann.
Einige Freund*innen von Judit sind immer noch im Gefängnis oder in Untersuchungshaft, viele arbeitslos. Da es für die meisten keine Aussicht gibt, wieder als Wissenschaftler*innen oder Dozent*innen eingestellt zu werden, gehen viele mittlerweile Aushilfsjobs nach –
zum Beispiel in der Gastronomie, in Gärtnereien oder mit privatem Nachhilfeunterricht.Ausländische Wissenschaftler*innen wurden des Landes verwiesen.

Letzter Ausweg für die Wissenschaft: Studieren unter freiem Himmel

Die Studierenden, die von den Universitätsschließungen betroffen waren, wurden dazu aufgefordert, ihr staatliche Ausbildungsförderung zurückzuzahlen, da sie mit der Schließung gleichzeitig auch ihren Studierendenstatus verloren hatten. Studenten sollen ihren Wehrdienst antreten, weil sie ohne ihren Studierendenstatus wehrdienstpflichtig sind. Neben den Universitäten wurden auch einige Studierendenwohnheime über Nacht geschlossen, womit ihre Bewohner*innen mehr oder weniger obdachlos wurden. Viele von ihnen sind übergangsweise bei Freund*innen untergekommen oder mussten zu ihren Familien zurückkehren.
„Das kann man sich in einem europäischen Land wie Deutschland vermutlich sehr schwer vorstellen,“ versucht Judit die dramatische Situation darzustellen und erzählt von den sogenannten Straßen- oder Solidaritätsakademien: „Einige der suspendierten Wissenschaftler*innen und Professoren*innen wollten sich mit der Situation nicht abgeben und weiter lehren, vor allem aus einem Pflichtbewusstsein gegenüber ihren Studierenden. Da der Zugang zu den Hochschuleinrichtungen nicht mehr möglich ist, unterrichten sie einfach unter freiem Himmel in öffentlichen Parks.“ Judit kann die Sicht dieser Dozenten*innen sehr gut nachvollziehen: „Ich vermisse auch die Studierenden und das Lehren. Ich hoffe, dass meine 300 Studierenden meine Entscheidung verstehen und sich nicht im Stich gelassen fühlen. Ich hätte sie gerne kontaktiert, aber unsere gesamten E-Mails und Kontakte wurden bei den Ermittlungen bewusst gelöscht.“

Universität Bielefeld unterstützt geflüchtete Wissenschaftler*innen

Aktuell arbeitet Judit als Gastwissenschaftlerin an der Universität Bielefeld. Den Weg bis dorthin verdankt sie vor allem der Leiterin des Welcome Centers an der Universität Bielefeld, Eleni Andrianopulu. Deutschland ist seit 2016 ein Hauptzielland für gefährdete Wissenschaftler*innen. Die Universität Bielefeld gehört derzeit zu den deutschen Hochschulen die die meisten geflüchteten Wissenschaftler*innen aufgenommen oder weitervermittelt haben. Das Welcome Center untertützt international mobile Wissenschaftler*innen, die einen Aufenthalt an der Universität Bielefeld planen, und übernimmt die zentrale Organistaion.  
„Wir betreuen momentan 24 Wissenschaft-ler*innen aus der Türkei, dem Iran, Syrien und Irak“, berichtet Eleni Andrianopulu. Auffällig sei, dass insbesondere nach dem Putschversuch in der Türkei die Anfragen aus dem Land zugenommen haben: „Kurz danach meldeten sich sechs Post-Docs bei uns, die sich während des Putschversuchs außerhalb der Türkei aufhielten. Sie waren teils auf Konferenzen, auf Tagungen oder schlichtweg im Urlaub. Einige von ihnen gehören zu den Unterzeichnern*innen des Friedensappells, andere lehrten aus staatlicher Sicht unbeliebte Fächer wie Evolutionsbiologie. Sie alle gehören zu den gefährdeten Personen und haben deshalb beschlossen, vorerst nicht in die Türkei zurückzukehren.“ Als sich die Situation in ihrem Heimatland zuspitzte, nahmen sie mit Bekannten und Wissenschaftskolleg*innen aus Deutschland Kontakt auf und gelangten über Umwege an die Universität Bielefeld. „Ihre Lage war nicht ganz einfach“, erinnert sich Eleni Andrianopulu. „Sie hielten sich im Ausland auf und waren auf die Situation völlig unvorbereitet. Unter anderem liefen ihre Visa ab. Entsprechend groß war der Handlungsdruck. Durch eine enge Zusammenarbeit mit der Ausländerbehörde konnte der Prozess zum Glück beschleunigt werden.“

Forschende schützen – akademische Freiheit stärken

Judits Stelle als Gastwissenschaftlerin ist über ein Stipendium finanziert – über die Phillipp-Schwartzer-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung. Hochschulen und Forschungseinrichtungen können dort Anträge für gefährdete Forschende aus aller Welt stellen. Eine zusätzliche Finanzierung wird in Bielefeld durch eigene Mittel der Universität und sonstige Stipendien ermöglicht, zum Beispiel über die DFG oder die VW-Stiftung. Im Vergleich zu anderen Hochschulen bekommt die Bielefelder Universität viele Anfragen von Betroffenen. Nicht alle von ihnen können in Bielefeld untergebracht werden, aber das Welcome Center vermittelt sie an andere Hochschulen. „Die Wissenschaftler*innen sind untereinander gut vernetzt und unser Welcome Center hat sich herumgesprochen“, erzählt Eleni Andrianopulu.
„Sehr erfreulich ist, dass sich einige der geflüchteten Wissenschaftler*innen selbst für gefährdete Kolleg*innen einsetzen und uns bei der Arbeit unterstützen.“ Warum all dieser Aufwand und Einsatz on top zur alltäglichen Arbeit? „Aus unserer Sicht ist es eine Pflicht, gefährdete Forschende zu schützen und vor allem die akademische Freiheit zu stärken“, betont die Leiterin des Welcome Centers.
Judits Förderung geht noch bis nächstes Jahr. Doch für sie steht fest, dass sie wegen der undurchsichtigen Situation in der Türkei erst mal in Deutschland bleiben wird. Wie genau es nach 2018 weitergeht, weiß sie noch nicht., doch eins liegt ihr besonders am Herzen: „Ich hatte Glück und konnte noch rechtzeitig ausreisen. Viele Wissenschaftler*innen sitzen quasi in der Türkei fest und haben ein Ausreiseverbot. Diese Kollegen*innen dürfen nicht vergessen werden – sie brauchen unsere Unterstützung.“

Şenol Keser
freier Journalist

Fotos: nurmalso, ina.mija  / photocase.de; praditkhorn somboonsa / shutterstock.com

2 Comments
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Kommentare (2)

  • Edith Schlagenhauf.Frick Sehr geehrter Herr Keser,
    Attac-Düsseldorf hat heute Vormittag ein Politisches Fruhstück mit dem Thema "Der schmutzige Flüchtlingsdeal zwischen der Eu und der Türkei" veranstaltet. In diesem Zusammenhang wurde auch über die entlassenen LehrerInnen und Wissenschaftlerinnen berichtet. Darauhin habe ich versucht herauszufinden, ob es von Seiten der GEW oder anderer Organisationen eine Initiative zur finanzielen Unterstützung der entlassenen Lehrer gibt und bin so auf Ihren Artikel gestoßen. Falls Sie Organisationen kennen, die Hilfe organisieren,wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir Adressen mitteilen könnten.
    Herzlichen Gruß von Edith Schlagenhauf-Frick, attac-düsseldorf
    • nds-Redaktion // Anja Heifel Hallo Frau Schlagenhauf-Frick, der Hauptvorstand der GEW unterstützt die türkischen Kolleg*innen unter anderem mit Hilfe des Heinrich-Rodenstein-Fonds. Mehr Informationen dazu finden Sie zum Beispiel hier: www.gew.de/internationales/heinrich-rodenstein-fonds
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