Suchtberatung für Lehrkräfte: Haben wir wirklich kein Problem?

Unterstützung für suchtkranke Lehrkräfte

Zu Suchterkrankungen oder Suchtgefährdung unter Lehrkräften gibt es keine speziellen Erhebungen. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass fünf bis sieben Prozent aller Beschäftigten in Deutschland alkoholkrank und zehn Prozent alkoholgefährdet sind. Statistisch gesehen müsste es also auch in Lehrerzimmern Betroffene geben. Deshalb initiierten der Personalratsvorsitzende Dietmar Winsel und seine Kolleg*innen vor rund 15 Jahren ein Pilotprojekt für Suchtberatung und -prävention für Lehrende im Regierungsbezirk Detmold.

Sucht oder Suchtgefährdung von Lehrpersonal ist in vielerlei Hinsicht ein Problem: Unterrichtsausfälle häufen sich und die Qualität der Lehre wird gemindert, die pädagogische Verantwortung der suchtkranken Lehrer*innen wird in Frage gestellt, schlussendlich wird dem Ansehen der Schule geschadet, was wiederum das gesamte Arbeitsklima verschlechtert. Als das Pilotprojekt „Suchtkrankenberatung für suchtmittelabhängige Kolleg*innen“ im Dezember 2001 in Detmold initiiert wurde, gab es keine vergleichbaren Angebote. Lediglich in die Suchtberatung für Schüler*innen wurde investiert.
Dietmar Winsel, damals Beratungslehrer mit dem Schwerpunkt Suchtberatung für Schü-
ler*innen an einer Schule im Kreis Paderborn, fand sich mit einer Gruppe Kolleg*innen zusammen, die die Forderungen nach einer solchen Beratungsleistung für Lehrer*innen ernst nahmen und der Bezirksregierung vorschlugen. Diese stimmte dem Vorhaben zu und finanzierte das Pilotmodell. Neun Lehrer*innen ließen sich in Folge zur „Fachkraft für Suchtkrankenberatung für suchtmittelabhängige Kolleg*innen“ ausbilden. Die Ausbildung dauerte drei Jahre und fand blockweise teilweise in den Schulferien statt. Die Projektbeteiligten arbeiteten eng mit erfahrenen Drogenberater*innen und einer Klinik in Lippe zusammen, dazu absolvierten sie Praktika in Suchtkliniken und Therapieeinrichtungen.

Ängste und Unsicherheit überfordern

Rein statistisch gesehen, müsste es in jedem größeren Kollegium Menschen geben, die an Suchterkrankungen leiden. „Die Gründe für Süchte sind vielfältig und lassen sich nicht ausschließlich auf den Stress des Lehrberufs reduzieren, aber es ist ein wichtiger Punkt“, macht Dietmar Winsel deutlich. Die steigenden Anforderungen der Schulwelt schaffen ein hohes Stresslevel, fördern soziale Konfliktfelder und die gesundheitliche Gefährdung durch Suchtmittelmissbrauch.
Die Projektgruppe hatte zu Beginn den Anspruch, aktiv in den Schulen zu beraten. Das stieß jedoch auf Ablehnung mit der Begründung, es gebe keinen Bedarf für Suchtberatung. Häufig reagieren Schulleitungen erst dann, wenn sich Beschwerden von Schüler*innen oder Eltern häufen oder der Alkoholmissbrauch nicht mehr zu übersehen ist. Umgekehrt bedeutet das: Solange Alkoholkranke während ihrer Arbeit nicht auffällig werden und diese zufriedenstellend erledigen, sehen viele Arbeitgeber keine Veranlassung aktiv zu werden. Dennoch signalisierten die Suchtkrankenberater*innen den Kollegien, der Schulaufsicht und natürlich den Betroffenen selbst jederzeit Gesprächsbereitschaft. Denn der unterstützende und lösungsorientierte Umgang mit Suchterkrankungen am Arbeitsplatz Schule gehört letztlich zur Fürsorgepflicht des Dienstherrn.  
„Wir reden hier vor allem von Alkoholmissbrauch“, macht Dietmar Winsel klar, „alle anderen Süchte fallen kaum auf oder es wird darüber hinweggesehen.“ Alkoholmissbrauch wird irgendwann deutlich: Viele Abhängige erklären den Alkoholgeruch mit der Einnahme von Hustensaft oder dem Verzehr von Weinbrandpralinen. Kommt es dann zu einem Nachlassen der Arbeitsleistung, zu Fehlzeiten oder Terminschwierigkeiten und häufen sich die Beschwerden von Schüler*innen und Eltern, nehmen auch die Schulleitungen die Problematik ernster.
„Es gibt Kolleg*innen, die können nur mit einem gewissen Alkoholspiegel arbeiten. Es fällt eher auf, wenn sie keinen Alkohol getrunken haben“, erzählt Dietmar Winsel. „Dass Kolleg*innen stark angetrunken in der Schule auftauchen, ist aber der Ausnahmefall. Häufiger kommt es vor, dass Betroffene regelmäßig abends bei Korrekturarbeiten eine Flasche Wein trinken.“ In der Regel wollen die Betroffenen von ihrer Sucht loskommen. Dabei ist eine Verhaltensänderung in bestimmten Situationen notwendig. „Dort setzt unsere Beratung an“, erklärt Dietmar Winsel. Oft werden der anstrengende Schul-
alltag, private Schwierigkeiten sowie Ruhe- und Ferienzeiten, bei denen der Rhythmus fehlt, als Problem empfunden. „Das Schwierigste für die Betroffenen ist, einzusehen, dass sie alkoholabhängig sind“, weiß Dietmar Winsel. Einige können sich ihre Erkrankung nur schwer eingestehen und suchen lange nach Ausreden.
Auch mit der Frage nach arbeitsrechtlichen Konsequenzen müssen sich suchtkranke Lehrkräfte auseinandersetzen. Sowohl Tarifbeschäftigten als auch Beamt*innen droht im schlimmsten Fall die Entlassung aus dem Dienst beziehungsweise aus dem Beamtenverhältnis. Bis dahin wird den Betroffenen allerdings eine Vielzahl an Unterstützungsleistung angeboten. „In den 15 Jahren meiner Tätigkeit ist mir kein Fall bekannt, in dem es zu einer Entlassung gekommen ist“, hält Dietmar Winsel fest.

Intervention oder Co-Abhängigkeit?

Bei Suchterkrankungen im Kreis der Kolleg*innen herrscht oft große Handlungsunsicherheit –  sowohl bei den Betroffenen als auch auf Seiten der Schulleitung und des Kollegiums. Im Regierungsbezirk Detmold greift nach Feststellung einer Suchterkrankung eine abgestimmte Interventionskette. „Die ist an der einen oder anderen Stelle dehnbar“, fügt Dietmar Winsel hinzu. Erhält die Schulleitung Kenntnis davon, dass bei einer Lehrkraft der Verdacht auf eine Suchterkrankung besteht, ist sie zunächst verpflichtet, ein Dienstgespräch zu führen. Dabei wird den suchtkranken Lehrer*innen mitgeteilt, dass es Ansprechpartner*innen zu ihrer Unterstützung gibt, und es wird erwartet, dass die Betroffenen sich mit den Suchtkrankenberater*innen in Verbindung setzen. „Auch Co-Abhängigkeit innerhalb des Kollegiums ist ein Thema“, macht Dietmar Winsel deutlich. Sie kann dazu führen,  dass Auffälligkeiten verharmlost werden, um den Schein zu wahren, oder aber die Kolleg*innen wenden sich ab und reden über die Betroffenen statt mit ihnen. „Bei Suchterkrankungen im Kollegium müssen kleine Systeme von großen Systemen getrennt betrachtet werden“, sagt Dietmar Winsel. „In kleinen Kollegien tritt eher die private Ebene ein und es kann für die Schulleitung plötzlich schwierig werden, die Führung zu übernehmen. Ebenso herrscht Unsicherheit darüber, Kolleg*innen eventuell zu Unrecht zu beschuldigen.“ In großen Kollegien besteht die Gefahr, dass die Betroffenen untergehen und ihre Erkrankung nicht bemerkt wird.
„Es kommt auch durchaus vor, dass wir die Erstgespräche mit Schulleitungen gemeinsam vorbereiten“, sagt Dietmar Winsel. „In der Regel vermitteln wir danach zu einer Beratungsstelle, zu der die Betroffenen sich selbstständig hinwenden können, weil es wichtig ist, den Schritt tatsächlich alleine zu gehen. Es kann sich ein bis zwei Jahre hinziehen, bis die Einsicht herrscht, dass was getan werden muss.“ Auch während der Therapien haben die Suchtkrankenberater*innen oft Kontakt mit den Betroffenen. Es kommt auch vor, dass sie Erkrankte in die Therapieeinrichtung bringen und im Vorfeld Gespräche mit Krankenkassen führen.

Nach der Therapie zurück in den Alltag

Nach der Therapie wird den Betroffenen geraten, die Erkrankung im Kollegium transparent zu behandeln. Es gibt außerdem die Möglichkeit, sich an eine andere Bildungseinrichtung versetzen zu lassen. „Wichtig ist, dass die Betroffenen lernen, Unterstützung bei den Kolleg*innen einzufordern“, betont Dietmar Winsel. Mehr als bei anderen Krankheiten gehören zur Alkoholsucht auch Rückfälle. Deshalb sind die Betroffenen auf die Rückmeldung anderer angewiesen. „Wir raten zu Achtsamkeit unter Kolleg*innen und auch dazu, erste Wahrnehmungen direkt anzusprechen“, sagt Dietmar Winsel. Zusätzlich bietet das Detmolder Pilotprojekt auch Nachsorge an: Gesprächstermine können über Jahre hinweg, zum Beispiel nach jedem Schulhalbjahr, stattfinden.
Dietmar Winsel ist auch in das Modell „Soziale Ansprechpartner*innen“ (SAP) involviert, das 2007 von der Bezirksregierung Detmold für das Schulministerium projektiert wurde und nun auch im Bezirk Arnsberg läuft. Die anderen Regerungsbezirke sollen folgen. Dass die Bezirksregierung Detmold entschieden hat, die von ihr selbst finanzierten Suchtkrankenberater*innen durch die vom Ministerium finanzierten SAP abzulösen, betrachtet Dietmar Winsel kritisch: „Als Suchtkrankenberater*innen stehen wir der Dienststelle zur Seite und sorgen mit unserer Beratung dafür, dass die Kolleg*innen von der Sucht loskommen. Die SAP sind ausschließlich den Lehrkräften verpflichtet – aber auch nur, wenn die Kolleg*innen von sich aus auf uns zukommen.“ Die Gespräche finden zwar vertraulicher statt und gehen über Suchtberatung hinaus, jedoch fällt ein wichtiges Hilfsinstrument weg: Anders als bei der Arbeit der Suchtkrankenberater*innen ist die Dienststelle nicht verpflichtet, die SAP zu Gesprächen hinzuzuziehen. Deshalb bedauert Dietmar Winsel, dass das alte Modell nicht fortgeführt wird. Auf der anderen Seite ist er froh, dass Detmold überhaupt Unterstützungsverfahren initiiert hat. „Ich fürchte nur, dass das neue Projekt auf lange Sicht in der Schublade versinkt, weil immer noch zu wenig Problembewusstsein in Bezug auf Suchterkrankungen herrscht“, erklärt er. Ohne eine konstruktive und problemlösungsorientierte Handlungsstrategie und die Offenheit aller Beteiligten sind solche Projekte nicht denkbar.

Roma Hering
freie Journalistin

Fotos: Flügelwesen, elmue, paperjam / photocase.de

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