Mitbestimmung für Schüler*innen: Demokratie an Schule leben

Schüler*innenvertretung NRW

Demokratische Beteiligung in Schule ist gesetzlich geregelt. Doch wie erleben Schüler*innen in NRW die Möglichkeiten der Mitsprache in ihren Bildungseinrichtungen? Sind die Strukturen heute überhaupt noch zeitgemäß? Und wie sollte eine demokratische Schule aussehen? Darüber hat die nds im Interview mit Philipp Schultes von der Landesschüler*innenvertretung gesprochen.

nds: Wie erlebt ihr Demokratie in Schule?

Philipp Schultes: Demokratie in der Schule beschränkt sich unserer Meinung nach viel zu sehr auf Scheinbeteiligung. Würde man die Schule mit einem Staatssystem vergleichen, befänden wir uns in einem Präsidialsystem: Die Schulleitung mit großen Privilegien trifft die meisten Entscheidungen autonom. Viele Lehrer*innen beschweren sich über dieses Konstrukt, weil die Schulleitung sie bei ihren Entscheidungen auch übergehen kann.
Der Ärger der Lehrer*innen ist sicherlich gerechtfertigt, aber uns Schüler*innen trifft es deutlich härter: Möchte die Schulleitung keine Beteiligung der Schüler*innenvertretung, der sogenannten SV, ist es ein schwerer Weg für Schüler*innen, sich ihre Rechte zu erkämpfen, auch wenn das Schulgesetz auf ihrer Seite steht. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die für eine funktionierende Demokratie in der Schule von Nöten wäre, kann einfach nicht stattfinden, wenn Schüler*innen immer die Gefahr in Kauf nehmen müssen, durch kritische Äußerungen eine schlechtere Note zu bekommen.

Bei welchen Themen dürfen Schüler*innen nach den aktuellen Regeln in ihrer Schule mitbestimmen?

Zunächst einmal ist es gestattet, uns selbst zu verwalten. Wir dürfen unsere eigenen Ämter wählen und auch entscheiden, wer auf unseren Sitzungen anwesend sein darf und wer nicht. Wir dürfen uns eine Satzung geben und unsere Finanzen selbst führen. Als Vertreter*innen der Schüler*innen sitzen wir in verschiedenen Gremien.

In welchen Gremien dürft ihr Schüler*innen dabei sein? Und habt ihr überall ein Mitspracherecht?

Maximal zwei Schüler*innen dürfen mit beratender Stimme an einer Fachkonferenz teilnehmen. Das Entscheidende ist aber, dass wir zum Beispiel in diesen Fachkonferenzen kein Stimmrecht besitzen. Das heißt, es ist dem Gutdünken der anderen Beteiligten – vor allem der Lehrer*innen – überlassen, ob sie unsere Äußerungen beachten oder nicht. Entscheidungen rund um Unterrichtsinhalte dürfen wir also allenfalls  beratend mitentscheiden.
Das höchste Beschlussgremium einer Schule ist die Schulkonferenz. Hier sitzen – zumindest an allgemeinbildenden Schulen – die gleiche Anzahl von Schüler*innen-, Lehrer*innen- und Elternvertreter*innen, was unserer Meinung nach bei der Betrachtung der Mehrheitsverhältnisse an den Schulen nicht zu rechtfertigen ist. Die Entscheidungsbefugnisse der Schulkonferenz sind in Paragraf 65 des Schulgesetzes recht streng definiert. So darf beispielsweise entschieden werden, dass die Anzahl der Elternvertreter*innen in Fachkonferenzen erhöht wird. Die Anzahl der anderen Beteiligten darf nicht bei Bedarf erhöht werden. Neben solchen eher nebensächlichen Entscheidungen müssen allerdings auch der Schulhaushalt und das Schulprogramm in der Schulkonferenz beschlossen werden. Auffällig sind bei vielen der 25 genannten Kompetenzen im Schulgesetz die Wörtchen „Grundsatz” und „Vorschlag”, durch die viele der Kompetenzen direkt wieder beschnitten werden.
Ein drittes relevantes Gremium ist die Teilkonferenz. Hier wird über das Verhalten von Schüler*innen gesprochen, die sich über Regeln hinweggesetzt oder zu oft den Unterricht unentschuldigt versäumt haben. Ein*e Schüler*innenvertreter*in ist in der Teilkonferenz stimmberechtigt, darf allerdings nur teilnehmen, wenn die*der betroffene Schüler*in der Teilnahme nicht widerspricht. Weiterhin kann sie*er aufgrund der Mehrzahl von Lehrer*innen und Eltern einfach überstimmt werden.
Außerhalb der Gremienarbeit gilt: Schüler*innen können eingebunden werden, wenn die Schulleitung und die Lehrer*innen sich dafür entscheiden. Nach Paragraf 74 Absatz 2 steht der SV zwar das Recht zu, am Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule mitzuwirken,  konkrete Beteiligungspflichten werden aber nicht gesetzt.

Inwiefern passen die traditionellen Beteiligungsstrukturen der Bildungseinrichtungen noch zu eurem Verständnis von demokratischer Partizipation und zu modernen Aktionsformen wie Onlinepetitionen, spontanen Flashmobs oder Diskussionen in Sozialen Medien?

Die jetzigen Beteiligungsformen und die momentan praktizierte Form von Demokratie in der Schule widerspricht unserem Verständnis einer demokratischen Gesellschaft. Dreimal im Schuljahr Abende mit Schulkonferenzen zu verbringen, ist keine hinreichende demokratische Struktur. Wie sollen Kinder und Jugendliche zur politischen Mündigkeit und zu demokratischen Bürger*innen erzogen werden, wenn die Schule kein Ort der lebendigen Demokratie ist? Politiker*innen müssen sich nicht über Politikverdrossenheit wundern, wenn Schule nicht zu Engagement und Beteiligung motiviert.
Modernisiert wurde am politischen System der Schule schon seit einiger Zeit nichts mehr. Der gültige SV-Erlass stammt aus dem Jahr 1979. Das dürfte schon einiges über das Vorhandensein moderner Aktionsformen aussagen. Auch hier gilt: Liberal eingestellte Schulleitungen und Lehrer*innen können vieles ermöglichen und vieles verhindern. Was in der Realität passiert, ist eine Frage des Typs.

Was würdet ihr euch wünschen, um in Schulen in NRW mehr demokratische Beteiligung zu ermöglichen?

Zunächst einmal müssen Schüler*innen auf die Rechte, die sie bereits besitzen, aufmerksam gemacht werden. Kaum jemand weiß zum Beispiel, dass Klassen einmal im Monat das Recht dazu haben, eine SV-Stunde abzuhalten oder dass Kollektivstrafen verboten sind. Darüber zu informieren, wäre eigentlich Aufgabe der Schule, doch entweder möchte man Schüler*innen nicht über ihre Rechte aufklären – was aus Sicht der Lehrer*innen vermutlich vieles einfacher macht – oder man kennt sie im Lehrer*innenzimmer selbst nicht genau genug, um sie vermitteln zu können.
Als zweiter Schritt müssen bei Entscheidungsprozessen in der Schule endlich diejenigen in den Vordergrund gestellt werden, um die es am Ende geht: die Schüler*innen. Sowohl die Eltern als auch die Lehrer*innen haben eine starke Lobby. Bei Schüler*innen ist das anders. Ihnen sollte endlich zugetraut werden, selbst zu wissen, was sie wollen und was sie nicht wollen. Viel zu oft wird diese Rolle noch von den Elternpflegschaften wahrgenommen, das sehen wir als Problem. Schule muss von Grund auf demokratisch gedacht werden. Das beginnt bei der Unterrichtsplanung und endet bei der Einstellung von Lehrer*innen. Alles, was Schüler*innen betrifft, sollte auch von ihnen mitentschieden werden. Davon sind wir heute noch Lichtjahre entfernt. Vielleicht sind neue Strukturen nötig, aber ohne dass man die Schüler*innen als mindestens gleichwertige Verhandlungspartner*innen betrachtet, wird Schule in den nächsten Jahren wohl nicht demokratischer werden.


Die Fragen stellte Jessica Küppers.

Fotos: iStock.com / martin-dm, skynesher, RgStudio; privat

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