Wie Lehrkräfte zu Gestalter*innen werden

Über den professionellen Umgang mit Anforderungen

Inklusion und Integration, Digitalisierung, G8 und G9, Lehrkräftemangel – mit wachsenden Aufgaben wird meist auch die Be- und Überlastung von Lehrkräften beklagt. Wie können solche zusätzlichen Anforderungen konstruktiv diskutiert und aufgelöst werden? Wie können Lehrer*innen sich aus der Opferrolle befreien und steigenden Anforderungen aktiv begegnen?

Die Belastung von Mitarbeiter*innen in der Schule ist immer wieder Gegenstand von politischen und pädagogischen Überlegungen. Zunächst sei festgehalten, dass der Begriff Belastung erst einmal ein negativer konnotierter Begriff ist. Eigentlich sind Anforderungen gemeint, die zu Belastungen führen können. Anforderungen sind ganz normal. Sie betreffen Schulen, aber auch andere private und öffentliche Arbeitsbereiche. Das Problem besteht darin, dass mit zusätzlichen Anforderungen zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen. Wenn es hier zu einem Ungleichgewicht kommt, kann dieses zu einer Belastung führen.

Die Pflege der Psyche allein reicht nicht

In den vergangenen Jahren wurde eine Menge getan im Bereich des schulischen Arbeits- und Gesundheitsschutzes: Es gibt Tests zu psychosozialen Belastungen, schulinterne Fortbildungen und externe Kurse, um den Umgang mit Belastungen beziehungsweise mit sogenannten Stressoren zu lernen. Diese Maßnahmen sind anerkannt und richtig. Sie sind aber nur die eine Seite einer notwendigen Diskussion: Man muss auch durchaus die Frage stellen, ob manche Anforderungen an Schulen und die damit verbundenen Lösungen an der richtigen Stelle diskutiert werden.
Genauso wichtig ist es nämlich, gesellschaftspolitische Debatten über Fehlentwicklungen zu führen. Diese beiden Seiten werden gerne als Schlüssel-Schloss-Problem beschrieben: Der Schlüssel ist die Lehrkraft, die sich verschiedene Schlüsselqualifikationen aneignen soll, um erhöhte Anforderungen – die Schlösser – bewältigen zu können. Aber dieser Weg ist nach oben hin nicht offen: Jeder Mensch kommt trotz aller Pflege seiner Psyche irgendwann einmal an seine Grenze. Daher ist es notwendig, auch und gerade über die Schlösser nachzudenken, die versinnbildlicht für die gesellschaftlichen, außerschulischen Anforderungen stehen, die in die Schule – teilweise massiv – hineinwirken.

Gesellschaftlich engagieren!

Auf der Suche nach Lösungen scheint derzeit nur die Schule im Fokus zu stehen: Als Reaktion auf neue Anforderungen oder negative Entwicklungen werden immer schnell Forderungen laut, zum Beispiel nach mehr Schulpsycholog*innen oder nach einer Absenkung der Klassengröße. So richtig diese Forderungen auch sind: Mit solchen Ansätzen weist man die Verantwortung für eine gelungene Lösung immer wieder der Schule zu, die alles richten soll. Aber so wenig wie die einzelne Lehrkraft nicht unendlich belastbar ist, so wenig ist auch die einzelne Schule als System in der Lage, alle von außen kommenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen.
Die Einflüsse von außen sind nämlich immens: Manche Nachmittagssendungen im Fernsehen zeigen Menschen mit einem Verhalten, das diametral dem Sozialverhalten entgegensteht, das Schule den Schüler*innen nahebringen will. Auch sind zum Beispiel die jüngste Diskussion um den Echo-Preis sowie die Reaktionen des politischen Systems auf den Dieselskandal nicht geeignet, als moralisches Vorbild zu dienen. Daher ist es unbedingt notwendig, dass Lehrkräfte und ihre gewerkschaftlichen Vertretungen, gesellschaftspolitisch breit mitdiskutieren, um Lösungen auch außerhalb der Schule zu finden.

Professionell diskutieren!

Dabei gilt es in Ruhe, aber mit Nachdruck zu handeln und seine Position deutlich zu machen. Manche Diskussionen sind so aufgebauscht, dass sie leicht ihre Wirkung verlieren: Die Fassungslosigkeit ersetzt die Urteilskraft, das Monströse verdrängt die Vernunft, wie es die Süddeutsche Zeitung einmal schrieb.
Dazu gehört auch, nicht ständig mit Übertreibungen zu arbeiten: Nicht alle Eltern sind Helikoptereltern, nicht alle Mütter sind Tigermütter. So wird zum Beispiel gerne kolportiert, die Digitalisierung ziehe eine Riesenumwälzung nach sich, die Arbeitslosigkeit gehe explosionsartig nach oben. Derartige Untergangsszenarien sind noch nie eingetroffen, verhindern aber, dass man im Nebel der Übertreibungen eine sinnvolle Auseinandersetzung um schulische Themen führen kann. Anstatt also schreckhaft Tablets für alle Schüler*innen zu fordern, sollte erst einmal ruhig nachgedacht werden, was im Bereich der Medienpädagogik sinnvoll und möglich ist.
Derartige Auswüchse in Diskussionen sind oft gekoppelt an „alternative Fakten“, gerne auch als Fake News bezeichnet. So kommt man schnell zu vermeintlich richtigen Beschreibungen der Wirklichkeit und plötzlich ist die Rede von einer Akademiker*innenschwemme oder von explodierender Gewalt an Schulen. Schaut man sich die Zahlen allerdings genau an, zeigt sich schnell, dass schon leichte Anstiege politisch missbraucht werden, um gesellschaftliche Debatten in eine gewisse Richtung zu führen. Aber auch Aussagen darüber, dass zum Beispiel Inklusion überhaupt nicht funktioniere, verwundern, denn es gibt durchaus Schulen, an denen das Gemeinsame Lernen reibungslos klappt. Das Abitur, so eine weitere Fake News, werde immer leichter – eine Behauptung ohne saubere Analyse von Abiturarbeiten seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gilt also immer, die Sache zu klären und erst einmal die Fakten zur Kenntnis zu nehmen.
Derlei völlig überzogene Diskussionen führen im politischen Raum zu Fehlentscheidungen und einem direkten Hineinregieren in den Unterricht einer studierten, erfahrenen Lehrkraft, was einer Deprofessionalisierung gleichkommt. Ein Beispiel ist das Verbot der Methode „Schreiben nach Gehör“, die vermeintlich verantwortlich sein soll für die angeblich schlechter werdenden Rechtschreibleistungen. So wurde diese Methode zum Beispiel in Hamburg 2014 verboten, um sie hinterher kleinlaut wieder zu akzeptieren und sogar wie in Baden-Württemberg die Anlauttabelle als Methode besonders zu würdigen.

Unser festes Fundament: Kant und von Humboldt

Wenn derartige Auseinandersetzungen zu oberflächlich werden, kommt man meist in der Sache nicht weiter. Notwendig ist deshalb die Suche nach einem festen Fundament, auf das man sich in der Debatte beziehen kann. Man wird immer wieder darauf hinweisen müssen, was eigentlich Auftrag von Schule ist. Dabei hilft ein Blick zurück auf Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt. Kant hielt es gesellschaftspolitisch für notwendig, dass jede*r nach ihrer*seiner Leistungsfähigkeit gesellschaftlich vorankommt. Diese bei Monarchist*innen natürlich unbeliebte These führte aber zur Notwendigkeit, dass bei jeder*m Einzelnen Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden müssen.
Wilhelm von Humboldt wies später ergänzend darauf hin, dass es schwierig sei, junge Leute für eine Zukunft auszubilden, die naturgemäß niemand kennen kann. Seine Lösung lag darin, neben den Fachinhalten vor allem den Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung beziehungsweise auf die Allgemeinbildung zu legen. Seine These war: Eine breite Allgemeinbildung versetzt junge Menschen in die Lage, mit zukünftigen Situationen umzugehen, die heute nicht voraussehbar sind. Ein so verstandener Bildungsbegriff und die stete Besinnung auf den Auftrag von Schule helfen dabei, unangemessene Forderungen abzuwehren. Sollte Schule mehr beziehungsweise andere Aufgaben als diese übernehmen, müssen allerdings auch die Ressourcen entsprechend angepasst werden, zum Beispiel im Bereich der Ganztagsschule.

Lösungen aber nicht nur außen suchen!

Zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass steigende Anforderungen und die daraus resultierenden möglichen Belastungen auch schulintern auftreten können, was manchmal nicht genügend thematisiert wird. In der TALIS-Studie vermerkt die Hälfte der befragten Lehrkräfte, dass ein großer Belastungsfaktor die Kolleg*innen sind, die bei der Schulentwicklung oder im Alltag nicht richtig mitziehen. Man versuche deshalb, deren Minderleistung zu kompensieren, was wiederum zu einer großen Belastung führe. Derartigen Problemen sollte man genauso wenig aus dem Wege gehen wie der gesellschaftlichen Debatte darüber, was Schule leisten soll.


Prof. Dr. Matthias von Saldern
Erziehungswissenschaftler und Berater für Organisationsentwicklung in Schule

www.matthias-von-saldern.de

matthias-von-saldern@online.de

Illustrationen: h keri_aa, Hvsht / shutterstock.com

 

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