Offen reden über Gewalt gegen Lehrer*innen

Lehrkräfte stärken und unterstützen

Wenn Lehrkräfte selbst zu Opfern von Gewalt werden, beginnt immer noch häufig das große Schweigen. Zu stark sind Scham- und Schuldgefühle: Haben betroffene Pädagog*innen versagt? Eine fatale Haltung, meint Coach Thomas Wissing. Er stärkt und unterstützt Lehrer*innen im Umgang mit Gewalt.

Als Frau Meier* mein Büro betritt, wirkt sie sehr mitgenommen. In unserem Erstgespräch berichtet sie mir von den Vorkommnissen der letzten Monate: Als gestandene Lehrerin habe sie nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit an einer Schule erfolgreich ihre Versetzung beantragt. Dies war zum einen motiviert durch eine Verkürzung des Arbeitswegs, vor allem aber wollte sie in einem neuen Kollegium neue Impulse und Inspirationen erhalten. Frau Meier beschreibt sich selbst als Lehrerin aus Berufung. Was jedoch völlig außerhalb ihrer Vorstellung lag, war die Tatsache, dass sie an ihrer neuen Schule mit Gewalt in unterschiedlichen Aus-prägungen konfrontiert sein und darüber krank werden würde.
Die Gewalt an Schulen hat in den vergangenen fünf Jahren massiv zugenommen und dabei sind Lehrer*innen immer öfter die Opfer von Gewalt. Dies bestätigten 55 Prozent der Lehrkräfte in einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa 2016 im Auftrag des nordrhein-westfälischen Verbands Bildung und Erziehung (VBE) durchgeführt hat.
Lehrkräfte leiden zunehmend unter psychischer Gewalt wie verbalen Entgleisungen, Drohungen und direktem oder indirektem Mobbing. Vor allem im Zeitalter der sozialen Medien ist es für Schüler*innen ein Leichtes, ihre Lehrkraft im Internet zu verunglimpfen, was sich wie ein Lauffeuer in der Schüler*innenschaft und oft sogar im privaten Umfeld der betroffenen Lehrer*innen herumspricht.

Über Gewalt reden, mit Gewalt umgehen

Was macht das mit einer Lehrkraft wie Frau Meier? Sie bleibt mit einer Mischung aus Scham, Schuld und Ohnmacht zurück. Vor allem aber fühlt sie die lähmende Kraft des Zweifels: Hätte ich anders oder früher reagieren können? Bin ich selber schuld? Diese und ähnliche Fragen untergraben langsam, aber sicher das eigene Kompetenzgefühl. Und das Fatale ist: Oft wird aus Scham nicht darüber gesprochen – ein Teufelskreis.
Das Ansprechen von Gewalterfahrungen und dem persönlichen Leid, das sich dadurch ergibt, wird zudem erschwert durch eine Kultur des Wegsehens. Erst Anfang Mai 2018 veröffentlichte Spiegel Online ein Artikel mit der Überschrift: „Angriffe an Schulen: Lehrerpräsident stellt Gewaltstudie infrage.“ Eine Haltung wie diese macht es betroffenen Lehrkräften zusätzlich schwer, sich zu zeigen. Aber aus meiner langjährigen Arbeit mit Lehrkräften und aufgrund der Untersuchung muss ich deutlich sagen: Gewalt ist Realität! Immerhin 39 Prozent der befragten Schulleiter*innen halten Gewalt gegen Lehrkräfte dennoch für ein Tabuthema. Für Lehrer*innen stellt das zusätzlich zur erlebten Gewalt ein massives Problem dar, das sich zunehmend negativ auf ihre Gesundheit auswirken kann.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Kolleg*innen nicht wissen, wie sie mit Gewalterfahrungen umgehen sollen. Bei physischen Übergriffen ist das noch relativ einfach: Sie können die Schulleitung über einen Vorfall informieren, damit schulische Sanktionen gegen die jeweiligen Täter*innen verhängt werden können. Auch eine Strafanzeige bei der Polizei steht Lehrkräften offen.
Der Umgang mit psychischer Gewalt ist deutlich schwieriger. Verbale Angriffe sind dabei mit Abstand die am weitesten verbreitete Form von Gewalt gegen Lehrer*innen. Kein Wunder, denn die Möglichkeiten, psychische Gewalt gegen andere auszuüben, sind durch die Möglichkeiten des Internets dramatisch gestiegen. Täter*innen können das sogenannte Cybermobbing auf mehreren Kanälen zugleich ausüben: über Videoportale, soziale Netzwerke, Messenger oder direkt via E-Mail. Gerade in der digitalen Welt kann es oft lange dauern, bis das Opfer die Gewalt überhaupt bemerkt. Zudem sind die Anstifter*innen häufig nur schwierig ausfindig zu machen, weil psychische Gewalt gegen Lehrer*innen meist von einer ganzen Gruppe von Schüler*innen ausgeübt wird.

Die eigenen „Kränkungsknöpfe“ kennen

Wie Lehrkräfte psychische Gewalt erleben, hängt stark von ihrer persönlichen Biografie ab. In Supervisionen und Fortbildungen wird immer wieder deutlich, dass in der individuellen Wahrnehmung Gewalt nicht gleich Gewalt ist und Vorkommnisse nicht von allen Menschen gleich bewertet werden. In jeder Situation gibt es diejenigen, die sie abtun und verharmlosen, und am anderen Ende diejenigen, die sie dramatisieren. So hat auch jede Lehrkraft spezielle Themen oder Punkte, auf die sie sensibler reagiert als andere. Basierend auf der Biografie und den Werten der*des Einzelnen kann eine moderierte Reflexion oder ein Coaching helfen, individuelle – wie ich es nenne – „Kränkungsknöpfe“ zu identifizieren. Frau Meier zum Beispiel musste sich ihr Studium im familiären Umfeld hart erkämpfen. Deshalb trafen sie Kommentare und Andeutungen, dass sie die unbeliebteste und unfähigste Lehrerin sei, ganz besonders. Wenn Lehrer*innen jedoch wie Frau Meier ihre persönlichen „Kränkungsknöpfe“ erkannt haben, können sie ihnen aktiv begegnen und es möglichen Täter*innen von psychischer Gewalt schwer machen, Ansatzpunkte zu finden. Beste Voraussetzung dafür ist eine resolute und souveräne Gelassenheit, wie ich sie seit Jahren mit Lehrkräften im Einzelcoaching und im Rahmen von Fortbildungen an Schulen übe. Gelassenheit und Schlagfertigkeit setzen psychischer Gewalt Grenzen.
Dass Lehrer*innen einem erhöhten, vor allem psychischen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind, wissen die Betroffenen häufig selbst nicht. Dabei liegt der Grund dafür auf der Hand: Lernen und Lehren sind komplett in zwischenmenschliche Beziehungsabläufe eingebettet. Das menschliche Gehirn schätzt nonstop die Qualität der Beziehung ein und aktiviert bei Bedarf Alarm- und Stresssysteme des Körpers. Geschieht diese persönliche Evaluation vor dem Hintergrund bereits erfahrener oder aktueller Gewalt, ist das limbische System der Lehrkraft auf Stress gepolt, sobald nur ein winziges Detail in der Kommunikation auf Gewalt hindeuten könnte. Das Resultat ist dann oft eine permanente „Habachtstellung“, die langfristig gravierende psychische Probleme mit sich bringt.

Systemische Gewalt aushalten

Aber wie verhält es sich mit der institutionellen Gewalt im Kosmos Schule? Lehrkräfte sind immensen berufsspezifischen Belastungen ausgesetzt. So müssen sie zur gleichen Zeit parallel mehrere unterschiedliche Belastungen meistern: Sie geben sowohl der Klasse als auch  einzelnen Schüler*innen Zuwendung, behalten währenddessen aber auch die Gruppendynamik und deren Entwicklungen im Auge. Nebenbei sollten sie in dieser Zeit natürlich auch noch Wissen und Inhalte vermitteln. Das geschieht im schulischen Alltag vor dem Hintergrund widersprüchlicher Forderungen und Erwartungen: Einerseits sollen die Schüler*innen möglichst individuell gefördert werden, andererseits sollen am Ende des Schuljahres alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen die Anforderungen der Bildungsstandards für das jeweilige Schuljahr erreichen.
Wenn Lehrkräfte Leistungen bewerten, müssen sie sich immer auch fragen, wie sich diese nachvollziehbar und überprüfbar zusammensetzen und ob ihre Notengebung am Ende gerecht ist. Dass sie genau das nicht sei und dass Noten sowieso komplett subjektiv seien, müssen Lehrer*innen sich trotz aller sorgfältigen Abwägung regelmäßig vorwerfen lassen.  
Dazu werden Lehrer*innen mit Erlassen und bildungspolitischen Initiativen konfrontiert oder mit Medienbildungsplänen und Anforderungen zum Datenschutz. Einen Großteil davon können die Kolleg*innen aber gar nicht leisten, weil die personelle, räumliche und materielle Ausstattung fehlt. Eine Wahl haben Lehrkräfte auch hier nicht.

Wenn das Umfeld zusätzlich belastet

Für viele Pädagog*innen ist die Lernsituation an sich schon ein belastendes Problem – angefangen bei den räumlichen Gegebenheiten in Klassen- und Funktionsräumen bis hin zum vorherrschenden Geräuschpegel. Zudem fehlt Lehrkräften in den allermeisten Schulen ein persönlicher Rückzugs- und Arbeitsraum, in dem sie in Ruhe ihre Unterrichtseinheiten vor- und nachbereiten können. Dafür steht lediglich das Lehrerzimmer zur Verfügung, wo sich gleichzeitig auch Kolleg*innen aufhalten, die sich einfach nur unterhalten wollen.
Sei es vor der Klasse oder während der Pausenaufsicht: Lehrkräfte stehen bis zu einem gewissen Grad im öffentlichen Raum und müssen unmittelbare Entscheidungen treffen. Eine undankbare Aufgabe, denn das Gegenüber empfindet es nicht selten als ungerecht, dass die Zeit für ein sorgfältiges Für und Wider fehlt.
Das Spannungsfeld, in dem Lehrer*innen sich bewegen, könnte man mit folgendem Bild beschreiben: Sie müssen eine Wandergruppe, bestehend aus Spitzensportler*innen und Untrainierten, im Nebel durch unwegsames Gelände führen. Und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an verschiedenen Zielorten ankommen – auch die Zuschauer*innen aus Elternschaft und Politik. Frau Meier kannte dieses Phänomen nur allzu gut und musste im Coaching erst wieder zu sich und zu ihrer eigenen Lehrer*innenidentität finden.

Sprachlosigkeit überwinden

Lehrkräfte, die von physischer oder psychischer Gewalt durch Schüler*innen betroffen sind, sollten diese Vorfälle unbedingt der Schulleitung melden und Unterstützung im Kollegium suchen. Leider gibt es auch hier oft kommunikative Grenzen: Frau Meier litt nicht nur unter der eigentlichen Gewalterfahrung, sondern auch darunter, dass sie von der Schulleitung keine ausreichende Rückendeckung bekam.
Aber auch gegenüber der*dem Partner *in oder im Freundeskreis sollte dieses Thema nicht tabuisiert werden. Auch im privaten Umfeld haben viele Betroffene Angst, sich zu „outen“ – schließlich besteht ihr Job darin, die Dinge im Griff zu haben. Menschen mit psychischen Problemen verändern ihr Verhalten und ziehen sich sozial zurück. Auch das sorgt für Sprachlosigkeit und belastet Partner- und Freundschaften. Wichtige Ansprechpartner*innen für Betroffene sind unter anderem die Vertreter*innen von Gewerkschaften. Bei ihnen können sie die Vorfälle nicht nur melden, sondern erhalten auch ganz konkrete Hilfen.
Wenn elf Prozent der psychischen Angriffe durch Schüler*innen und sogar 26 Prozent der durch Eltern verursachten psychischen Angriffe nicht gemeldet werden, läuft etwas ganz massiv schief. Wenn die Verantwortlichen nicht unterstützen, Erfolgsaussichten angezweifelt werden und Pädagog*innen Angst vor Konsequenzen haben, wird Gewalt gegen Lehrkräfte zu ihrem Privatproblem. Dadurch steigert sich die Gefahr immens, dass die Lehrkräfte psychische Probleme bekommen.

Aktiv gegen Gewalt – am besten sofort!

Welche ersten Gegenmaßnahmen können Lehrer*innen im Schulalltag ergreifen? Hilfreich sind strukturierte Gespräche mit Schüler*innen über Gewalt im schulischen Umfeld – sowohl unter Gleichaltrigen als auch gegen Lehrkräfte. Sie basieren im Idealfall auf einem Schulkodex, also auf schulischen Leitlinien, die in der Schulkonferenz verabschiedet werden und für alle gelten. Kooperationen mit externen Partner*innen – auch mit der Polizei –, Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, schulinterne Fortbildungen und individuelle Coachings stärken Lehrer*innen zusätzlich und machen sie sicherer und selbstbewusster im Umgang mit Gewalt.
Frau Meier hat unter anderem geholfen, sich bewusst zu machen, dass sich viele Fälle von psychischer Provokation und Aggression nicht gegen ihre eigene Person, sondern gegen die professionelle Funktion der Lehrkraft richten. Indem sie ihre Gelassenheit trainierte, schaffte sie es, ihre Reaktionen auf aggressives Verhalten nicht auf die emotionale, persönliche Ebene zu heben, sondern möglichst sachlich und professionell zu bleiben. Da jedes psychische Problem immer auch ein emotionales Problem ist, müssen Lehrer*innen zunächst lernen, bewusst mit den eigenen Gefühlen umzugehen. So konnte schließlich auch Frau Meier Methoden und Strategien entwickeln, um Gewalt deutlich besser zu begegnen.
Gewalt gegen Lehrkräfte darf kein Tabuthema mehr sein. Lassen Sie uns offen darüber reden, was an unseren Schulen passiert!


Thomas Wissing
Therapeut, Coach und Organisationsberater sowie Lehrer*innenfortbildner

Fotos: MPower. / photocase.de; iStock.com / RinoCdZ

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