Die neue Elternmacht: Druck von draußen

Die neue Elternmacht

Eltern haben in den vergangenen Jahren die Schulpolitik in NRW geprägt wie noch nie zuvor. Zum Einsatz kamen neue oder lange nicht mehr verwendete Instrumente – von der Volksinitiative bis zur Online-Petition. Ob der leidenschaftliche Elternprotest insgesamt ein Gewinn für die politische Kultur war, muss sich aber noch zeigen.

Wer geglaubt hat, die außerparlamentarische Opposition sei tot, sollte einen Blick nach Nordrhein-Westfalen werfen. NRW liefert gerade reichlich Anschauungsmaterial dafür, wie eine Gruppe „von draußen“ Einfluss auf die Politik nehmen kann: die Eltern. Sie haben in dieser Legislaturperiode die Schulpolitik tiefgreifender mitgestaltet als jemals in der Nachkriegszeit. Allenfalls das erfolgreiche Volksbegehren gegen die von SPD und FDP geplante „Koop-Schule“ 1978 mag als Vergleich herhalten.

Schulzeitverkürzung: eindrucksvolle Demonstration von Elternmacht

Heute allerdings ist der Einfluss der Eltern breiter. Sie sind zu einem Taktgeber der Bildungspolitik im Land aufgestiegen. Am schlagendsten hat sich das im Streit um die gymnasiale Schulzeitverkürzung erwiesen. Es waren die Eltern, deren Protest gegen das achtjährige Gymnasium (G8) den Konsens von vier der fünf im Landtag vertretenen Parteien zum Einsturz brachte.
Dieser Umschwung hatte drei Etappen: zunächst 2014 eine Volksinitiative für die Rückkehr zum neunjährigen System (G9), die binnen eines Jahres knapp 100.000 Unterschriften zusammenbrachte. Der Protest ließ sich aber noch vergleichsweise leicht parieren mit einer routinierten Ablehnung im Landtag und dem Verweis der grünen Schulministerin Sylvia Löhrmann auf den runden Tisch, an dem die Eltern über die Zukunft des „Turboabiturs“ mitberaten sollten.
Sylvia Löhrmann gelang es allerdings nicht, durch den basisdemokratisch inspirierten runden Tisch die basisdemokratische Wucht des Elternprotests zu kanalisieren. Der runde Tisch schlug im Herbst 2014 Reformen und Entlastungen beim G8 vor, die von den G9-Initiativen sofort abgelehnt wurden. Ein Konsens war schon damals nicht mehr möglich.
Der zweite, entscheidende Schritt war der Wechsel der Landeselternschaft der Gymnasien ins G9-Lager. Im Frühjahr 2015 kündigte der neue Vorsitzende Ulrich Czygan den alten Konsens auf; ein Jahr später legte die Landeselternschaft eine spektakuläre Umfrage vor, deren repräsentativer Teil ergab: Eine Mehrheit von 79 Prozent der Landeselternschaftmitglieder ist gegen G8. Ein wichtiger Pfeiler von Sylvia Löhrmanns Strategie –
G8 reformieren, aber behalten – war zusammengebrochen. Die politische Debatte kam, auch angesichts der näherrückenden Wahl, im Sommer relativ plötzlich in Bewegung; bis zum Herbst legten alle wichtigen Parteien Konzepte für eine neue Organisation des Gymnasiums vor.
Keine Partei außer DIE LINKE, AfD und den in die Bedeutungslosigkeit zurückgesunkenen Piraten allerdings will flächendeckend G9 zurück. Nur folgerichtig ist deshalb Teil drei der langen Abkehr von G8: das Anfang 2017 begonnene Volksbegehren der G9-Initiativen, das alle Parteikonzepte über den Haufen werfen könnte, sollte es zum Volksentscheid über das mit der Initiative verbundene Gesetz kommen. 

Recherchen, Stichproben, Petitionen: Eltern ergreifen die Initiative

Auch bei den beiden anderen großen schulpolitischen Aufregern waren es die Eltern, die den Druck hochhielten: beim Unterrichtsausfall und bei der Inklusion. Das geschah jeweils in einem Zweckbündnis mit der Landtagsopposition. Denn im Gegensatz zum „Turboabitur“, das lange Zeit von SPD, CDU, GRÜNEN und FDP gegen die Eltern verteidigt wurde, war der Unterrichtsausfall immer schon ein Spielfeld des klassischen, auch kleinlichen Parteienstreits, und der Inklusionskonsens zwischen CDU und Rot-Grün aus dem Jahr 2010 war schon bald zerbrochen.
Bei der Inklusion freilich sind auch die Eltern gespalten. Auf der einen Seite stehen die Vereine, die Eltern von Kindern mit Handicap vertreten und denen die Inklusion häufig zu langsam vorangeht. Auf der anderen Seite hat sich 2017 ein Elternbündnis formiert, dem der Elternverein sowie die Landeselternschaften der Realschulen und der Gymnasien angehören und das unter anderem für eine Begrenzung der Zahl der inklusiven Schulen und für eine Stärkung der Förderschulen eintritt.
Beim Unterrichtsausfall dagegen ist das Bild klarer: Eltern gegen Politik, vor allem gegen Regierung. Die Ergebnisse der offiziellen Stichprobe – für das Schuljahr 2015 / 2016 weist die Statistik einen Wert von 1,8 Prozent ersatzlos ausgefallenen Unterrichts aus – stoßen weithin auf Unglauben. Dem werden eigene Erfahrungen entgegengehalten, nach denen teils monatelang kein Unterricht in Kernfächern erteilt wird. Erst 2016 gab es eine Einigung auf eine sehr viel umfangreichere Stichprobe; ab dem kommenden Schuljahr sollen alle Schulen daran teilnehmen.
Das hat freilich die Eltern nicht davon abgehalten, selbst tätig zu werden. Die Landeselternschaft der Gymnasien legte Anfang 2016 eine eigene Stichprobe vor, wonach an 53 Schulen 6,4 Prozent des Unterrichts ausfielen. In Dortmund startete im Frühjahr 2017 ein Rechercheprojekt, bei dem Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen online über Ausfälle Buch führten. Resultat: 41 Prozent des nicht planmäßig erteilten Unterrichts fielen aus, mehr als doppelt so viel wie im Landesschnitt. Düsseldorfer Eltern setzten 2015 eine Online-Petition für bessere Lehrer*innenversorgung auf, die knapp 14.000 Unterschriften sammelte. Solche Aktionen senkten nicht zuletzt die Schwelle für Eltern, sich schulpolitisch zu engagieren. 

Elternmitwirkung neu organisieren: Darf es noch etwas mehr sein?

Die Eltern sind sich ihres Einflusses sehr wohl bewusst. G9-Befürworter*innen betonen gern, bei einer Lehrkraft, 30 Schüler*innen und 60 Eltern in einer Klasse sei doch klar, wer den meis-ten Einfluss hat und haben sollte. „Wir haben gemeinsam genug Schwungmasse, um etwas zu bewegen, und wir werden diese Schwungmasse nutzen“, kündigte der Landeselternschaftsvorsitzende Ulrich Czygan 2016 im Landtag an. G9-Befürworter Marcus Hohenstein gab sich schon nach der Volksinitiative 2015 siegesgewiss: „Ich gehe fest von einem Umdenken aus, spätestens zur Landtagswahl.“ Er behielt recht. „Die Eltern sind selbstbewusster geworden“, konstatierte deshalb die scheidende Schulexpertin der SPD-Fraktion, Renate Hendricks, und fügte hinzu, sie begrüße das, „auch wenn das die Verfahren nicht immer einfacher macht“.
In dieses Bild passt es, dass auch die Debatte um eine einheitliche Elternvertretung in NRW neu geführt wurde – ein altes rot-grünes Anliegen. Auch hier waren die Eltern gespalten, und zwar ungefähr entlang der politischen Ausrichtung ihrer Verbände. Die einheitliche Elternvertretung gibt es auch 2017 nicht; aber immerhin fand im Frühjahr eine erste „Elternkonferenz“ statt, die über Fragen der Mitwirkung beriet. Neue oder in der Schulpolitik lange nicht mehr benutzte Instrumente waren auch Löhrmanns runder Tisch, die Volksinitiative, das Volksbegehren, die Online-Aktionen. Die parlamentarischen Beratungen sind durch basisdemokratische, wenn auch nicht durch Wahlen legitimierte Elemente wie den runden Tisch oder durch die in der Verfassung vorgesehenen direktdemokratischen Verfahren ergänzt worden. Unterschätzt nie wieder die Wucht des Protests von draußen – das ist die Lektion der vergangenen fünf Jahre.

Elternfrust als Antrieb für echte demokratische Mitbestimmung?

Ob dieser Protest vorwärts oder zurück weist, ist weniger eindeutig. So möchte der harte Kern der G9-Befürworter*innen zurück zum Halbtagsgymnasium; Ganztagsbetreuung soll allenfalls auf freiwilliger Basis möglich sein. Dass vor allem der Ganztag für viele Schüler*innen ein Segen ist, weil er Defizite des Elternhauses auffangen kann, kommt in dieser Argumentation nicht vor – viele G9-Anhänger*innen halten Ganztag eher für einen staatlichen Übergriff als für ein Mittel der Förderung. Damit werde ein Weltbild wie aus den 1950er Jahren propagiert, ist nicht nur bei SPD und GRÜNEN zu hören. Hinzu kommt der immer wieder problematische Ton der Diskussion. Da werden Kinder als Geiseln des Bildungssystems bezeichnet, wird das G8-System mit der DDR verglichen, werden seine Befürworter*innen als Büttel des Schulministeriums diskreditiert, wird Politiker*innen gedroht, man werde sie „zum Teufel jagen“. Das ist Gift für jede Debatte; Ausfälligkeiten dieser Art werden aber gern als eine Art Notwehr der Eltern deklariert, die sich ja anders nicht wehren könnten. Spätestens an dieser Stelle ist dann auch Frust über das System der repräsentativen Demokratie erkennbar. Die G8-Reform sei zwar vom Landtag beschlossen, aber deshalb doch nicht „im Sinne einer öffentlichen Diskussion demokratisch legitimiert“, befand 2016 der Kölner Bildungsforscher Matthias Burchardt. Wohlgemerkt: Der Mann lehrt an einer Universität.NRW hat schulpolitisch Neuland betreten. Es hat neue Verfahrenserfahrungen gemacht, und das liegt vor allem an den Eltern. Ob das leidenschaftliche Engagement der Eltern auch ein Gewinn für die politische Kultur war, muss sich erst noch zeigen. Gelegenheit wird es geben, denn die Debatte wird weitergehen. Dafür sind noch zu viele schulpolitische Fragen offen.  

 

Dr. Frank Vollmer
stellvertretender Ressortleiter Politik der Rheinischen Post, unter anderem zuständig für das Thema Schulpolitik

 

Fotos: iStock.com / freemixer, MichaelJBerlin /photocase.de, iStock.com / AlexD75

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