Erziehung zu Gleichwertigkeit

Gewerkschaftstag 2016: Leitthema „Handeln gegen Rechtspopulismus“

Wenn Bildung und Erziehung junge Menschen zur demokratischen Teilhabe befähigen sollen, dann können PädagogInnen nicht wegschauen, wenn die AfD in die Landesparlamente einzieht und wenn PEGIDA gegen die Islamisierung des Abendlandes auf die Straße geht. In den Lehrplänen ist das nicht vorgesehen. Die Konfliktforschung bietet einen möglichen Ansatzpunkt: Erziehung muss vermitteln, dass alle Menschen gleichwertig sind – und erklären, warum die Realität oft eine andere ist.

Zwei Vorsätze: Gute Erziehung braucht eine gute Gesellschaft. Und: Erziehung ist heute wichtiger denn je. Diese beiden Sätze klingen banal, sind banal, aber sie sind reichlich brisant und konfliktreich, wenn sie genauer ausgeschrieben und an ihren Gelingensbedingungen überprüft werden. Ist der Zustand der Gesellschaft sehr gut, gut, befriedigend, ausreichend, mangelhaft oder ungenügend für die Erziehung, insbesondere in jenen Institutionen, die institutionell Erziehung gestalten? Ist der Zustand stabil, angespannt, fragil, zerrissen oder rasend veränderlich? Die aktuelle gesellschaftliche Lage in Deutschland ist schwer zu beschreiben und dennoch muss sie beschrieben werden, um Erziehung zu ermöglichen und Erziehung in der Gesellschaft zu verorten. Erziehung braucht Gesellschaft, nicht irgendeine Gesellschaft, und Gesellschaft produziert Erziehung, nicht irgendeine Erziehung.

Gleichwertigkeit – eine Grundidee gerät ins Wanken

Die Konfliktforschung und insbesondere die Forschung über die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bietet einen kleinen Beitrag zur Klärung dieser Fragen an. Der Fokus liegt dabei auf miteinander verbundenen Ideologien von Ungleichwertigkeit, Vorurteilen und Diskriminierungen, die für die Diskussion über die Zukunft von Erziehung angesichts des gesellschaftlichen Zustands interessant sein können. Die These dahinter ist: Erziehung muss getragen sein von der Idee der Gleichwertigkeit. Das aber reibt sich mit den gesellschaftlich dominierenden Orientierungen. Angesichts dessen, was die Konflikt- und Gewaltforschung sieht, steht die Gestaltung von Erziehung in den dafür vorgesehenen gesellschaftlichen Institutionen vor massiven Herausforderungen, eben, weil die Gleichwertigkeit von Gruppen immer schwieriger einen Konsens erreicht. Mit diesem Blick noch einmal gefragt: Wie ist der Zustand? 
Die Studie „Fragile Mitte – menschenfeindliche Mentalitäten“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Gesellschaft angesichts der Verbreitung von Vorurteilen, Populismus und Extremismus, die allesamt von Ideologien der Ungleichwertigkeit gesellschaftlicher Gruppen getragen werden, im Jahr 2014 als fragil beschrieben. Auch andere große, aktuelle Umfragen in Deutschland – zum Beispiel der Zwischenbericht des Projekts „Zugehörigkeit und (Un-)Gleichwertigkeit“ – zeigen: Vorurteile sind hoch verbreitet und es gibt starke Polarisationen zwischen zivilgesellschaftlich orientierten Gruppen und jenen, die rechtspopulistische Ideologien oder sogar rechtsextreme Meinungen vertreten, auch wenn sie nicht mit solchen Milieus verbunden oder in ihnen organisiert sind. Zwar sind über einen längeren Zeitraum hinweg viele abwertende Einstellungen von Gruppen rückläufig und weisen damit auf eine positive Wirkung von Interventionsmaßnahmen hin, aber Zustimmungen zu Antisemitismus, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen und auch ein klassischer Sexismus gegenüber Frauen sind relativ stabil und die Vorurteile gegenüber Arbeitslosen sind sehr weit verbreitet. 
Das Bild von Einwandernden sowie Geflüchteten und Asylsuchenden ist weit in der Mitte negativ. Aussagen zur Begrenzung der Zuwanderung und Ressentiments gegen Geflüchtete und Asylsuchende waren auch schon 2014 vorhanden und weit in der Mitte verankert. Aussagen wie: „Fremde Einflüsse auf unsere Kultur müssen auf ein vernünftiges Maß begrenzt werden“ oder „Es leben zu viele AusländerInnen in Deutschland“ werden mit hoher Zustimmung in allen gesellschaftlichen Gruppen geteilt. Rassistische Einstellungen stiegen sogar unter den reichsten der von uns befragten Personen an. Dabei finden sich rechtspopulistische Meinungen, die von Vorurteilen, Demokratiemisstrauen, Elitenkritik, Anti-EU-Ressentiments, autoritären Strafkonzepten sowie politischen Emotionen von Wut und Hass bei 20 Prozent der Befragten Zustimmung. Und sie erscheinen legitim, denn die Mehrheit – 58 Prozent – ist ohnehin der Meinung: „In Deutschland darf man nichts Schlechtes über AusländerInnen und Jüdinnen und Juden sagen, ohne als RassistIn beschimpft zu werden.“ Also raus damit? Die Wut rauslassen? Angesichts der Übergriffe auf Asylunterkünfte, der Hasswelle in der analogen und vor allem digitalen Welt, entpuppt sich die Selbstwahrnehmung, man dürfe nichts Schlechtes über andere sagen, wie eine Selbstentlastung vor dem Übergriff.

Vorhandene Feindseligkeiten verschärfen sich

Abwertungen und Angriffe machen es der Erziehung schwer und drängen sich ihr auf, auch wenn das im Alltag von Erziehenden nicht vorgesehen ist. Dazu kommt ein zweiter Aspekt, der den Zustand der Gesellschaft fragil und zerrissen erscheinen lässt: Die Polarisationen zwischen Gruppen, die zivilgesellschaftliches Engagement zeigen und Diversität als Leitbild der modernen Einwanderungsgesellschaft betrachten, und jenen, die deutlich an das Leitbild eines homogenen deutschen Volkes glauben, sind gewachsen. Sie waren schon vor der Zuwanderung Geflüchteter angelegt. In der Studie „Zugehörigkeit und (Un-)Gleichwertigkeit“ von Ende 2014 waren bereits 36 Prozent einer repräsentativen Stichprobe eindeutig für eine stärkere Willkommenskultur für MigrantenInnen, während 31 Prozent dies sehr deutlich ablehnten. 47,2 Prozent hatten eine eindeutig positive Haltung zur zunehmenden Vielfalt, während fast ein Viertel der Befragten sie definitiv zurückwies.
Menschenfeindliche Vorurteile, Verachtungen, offene und versteckte Formen des Rassismus und der explizite oder implizite Wunsch, andere zu diskriminieren, entstehen eben nicht in einem Vakuum und auch nicht während einer akuten gesellschaftlichen Krise. Es gibt seit vielen Jahren in allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen ein Reservoir an Feindseligkeiten, die in Krisenzeiten aktiviert werden können oder zur Regulation von Konflikten eingebracht werden können. Studien weisen auf einige zentrale Ursachen für menschenfeindliche Vorurteile und Zustimmungen zu rechtsextremen wie -populistischen Orientierungen hin: Eine starke Identifikation mit einer imaginierten national homogenen Volksgemeinschaft, Macht- und Dominanzorientierungen sowie das Gefühl, als nationale Gruppe im Vergleich zu anderen depriviert zu sein, ebenso wie die Meinung, der Wert von Gruppen bemesse sich nach ökonomischen Kriterien, sind für die Verbreitung und Stärke der Abwertung verantwortlich.

Ursachen von Ungleichwertigkeit – Erziehung muss Antworten liefern

Beachtenswert ist eine weitere Entwicklung, die es mit Blick auf die Frage nach der Zukunft der Erziehung sorgsam zu beobachten und gut zu verstehen gilt. Insbesondere jüngere Befragte (16 bis 30 Jahre) sowie Ältere (über 60 Jahre) stimmen rechtsextremen, rechtspopulistischen und menschenfeindlichen Meinungen über Gruppen zu. Warum? Junge und ältere Menschen stehen mehr als andere unter dem gesellschaftlichen Druck der Absicherung ihrer Lebensverhältnisse und Gestaltung der Zukunft. Dazu brauchen sie Partizipation und Bindung, die ihnen die Gesellschaft bereitstellen kann und sollte. Sie brauchen aber auch Antworten auf die Frage, warum ihre Lage so ist wie sie ist und woher Ungleichwertigkeit kommt.
Erziehung kann ein Raum sein, in dem eine zentrale gesellschaftliche Frage des Zusammenlebens diskutiert wie gestaltet werden kann: Inwieweit und warum werden Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener sexueller Orientierung, Menschen mit und ohne Handicaps, mit oder ohne Arbeit in der Gesellschaft als gleichwertig anerkannt oder aber mit Abwertung, Diskriminierung und Ausschluss konfrontiert? Wenn Erziehung hierauf keine Antwort hat, übersieht sie eine zentrale Frage jener, die sie erziehen möchte.

Prof. Dr. Andreas Zick
Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld

Foto: A. Etges

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