Demokratie wachsen lassen

Urban Gardening

„Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, sagte Martin Luther. Aber warum warten bis die Welt untergeht, wenn man doch gleich mit dem Pflanzen anfangen kann und damit genau diesen Untergang verhindert? In Tunesiens Hauptstadt setzen einige Kinder- und Jugendeinrichtungen auf Urban Gardening als Lernfeld für Demokratie und zivilgesellschaftliche Tugenden – und pflegen engen Kontakt nach Köln.

Urban Gardening

Mit dabei sind auch ein Berufskolleg mit Schwerpunkt Bautechnik (Ibn Sina) sowie VertreterInnen der Stadtverwaltung und der Regierung. Eine zehnköpfige Delegation aus Tunis besuchte im August 2015 für eine Woche ihre Partnerstadt Köln, um sich zu den Themen Urban Gardening, Schulgarten und Essbare Stadt zu informieren. Herzstück des Fachkräfteaustauschs war ein dreitägiger Workshop mit den MacherInnen der Gartenwerkstadt Ehrenfeld, einem Urban Gardening Projekt in Köln-Ehrenfeld. Hier bekamen sie konkretes Fachwissen an die Hand – von Bodenkunde über Kompost und Wasserspeicherung bis zur Samenernte. Mindestens ebenso wichtig wie das Fachwissen ist aber das logistische Management im Hintergrund, damit die freiwillig Aktiven sinnvoll tätig werden können. In diesem Zusammenhang betonte der Geologe und Vorsitzende der Gartenwerkstadt Ehrenfeld Dr. Volker Emert, wie enorm wichtig die Konsensfindung sei. Aus diesem Grund waren die Psychologin Kaouther Eltaief von Ibn Sina und ihre MitstreiterInnen aus den Jugendzentren von Tunis so begeistert vom Urban Gardening: „Dieses Projekt greift starke soziale Komponenten wie Gruppendynamik und Community Building auf.“

Gärtnern im Geist der Französischen Revolution

Die Parole der Französischen Revolution, die der Impulsgeber für die erste Demokratie der Neuzeit war, beschreibt den Kern des Urban Gardening treffend. Denn auch hier geht es um die Freiheit, sich jeden Tag neu entscheiden zu können, ob man mitmachen möchte oder nicht. Auch Gleichheit gehört systemimmanent dazu: Alter, Gesellschaftsschicht oder religiöse Überzeugungen spielen keine Rolle. Funktionieren kann das Ganze nur, wenn alle zusammenstehen und gemeinsam anpacken. Im Großen taten das die vier tunesischen PreisträgerInnen des Friedensnobelpreises 2015 und machten damit den Anfang. Nun sind alle BürgerInnen Tunesiens gefordert, die große Vision in kleinen Schritten in ihrem Alltagsleben umzusetzen. Hier zeigt sich schnell, dass es mit der Freiheit nicht immer so einfach ist, denn sie hat zwei Seiten: Die Freiheit von Unterdrückung und Machtmissbrauch und die Freiheit für die Entscheidung, an welcher Stelle ich meine bürgerliche Verantwortung für das Gemeinwohl einbringe. Es handelt sich dabei um einen Lernprozess der gesamten Gesellschaft. Noch fehlt es an konkreten Vorbildern und Orientierungshilfen, wie Demokratie im Alltagsleben praktiziert werden kann. Eltern, LehrerInnen und BildungspolitikerInnen sind hier deshalb besonders gefordert.

Selbstwirksamkeit erfahren

Die Demokratie als Staatsform ist in Tunesien ja selbst gerade erst in der Pubertät: Sie weiß genau, was schiefläuft und löst sich von den autoritären Strukturen. Aber tatsächlich Verantwortung zu übernehmen, die Einsicht zu gewinnen, dass dies notwendig ist, und dann die Bereitschaft und Fähigkeit zur Umsetzung zu entwickeln – das sind Prozesse, die Zeit brauchen. Und wie beim Umgang mit pubertären Jugendlichen ist auch hier das Wichtigste: im Gespräch bleiben. Angebote entwickeln, die Lust machen auf das Abenteuer Leben. Strategien ausarbeiten, die auch in dieser schwierigen Phase Erfolgserlebnisse generieren und so die Zuversicht fördern, dass die jungen Menschen den damit verbundenen Herausforderungen auch gewachsen sind. Dafür ist das Medium Garten ideal: Auf vielfältige Weise können hier Selbstwirksamkeit und Verbundenheit erlebt werden. Die Abstimmung, welche Pflanzen gesetzt werden, trainiert Konsensfähigkeit. Mit jeder Tomate wird auch immer etwas Hoffnung gesät. Ihre Reifezeit lehrt, dass Veränderungen nicht mit einem kurzen Klick oder einer einmaligen Anstrengung zu haben sind, dass sie aber – wenn man dranbleibt – sehr wohl Früchte tragen können. Mit einem Fest, bei dem die Ernte gemeinsam zubereitet und gegessen wird, können Erfolge gefeiert und Verbundenheit geschaffen werden. SchülerInnen mit wenig Aussicht auf Ausbildung und junge Erwachsene ohne Arbeit können im Umgang mit Pflanzen Erfolgserlebnisse verbuchen, die ihr Selbstbewusstsein wieder aufrichten.

Berührungsängste abbauen

In jedem Fall bietet Urban Gardening eine Horizonterweiterung. Nicht nur was gärtnerisches Fachwissen angeht, sondern auch in Bezug auf Menschen, mit denen man ansonsten wenige oder gar keine Berührungspunkte teilt. So wie im Projekt von Kaouther Eltaief. Sie leitet das Gartenprojekt am Berufskolleg Ibn Sina in Tunis. Gemeinsam mit den StudentInnen entstand das Motto: „Deine Stadt – Deine Verantwortung“. Ein Flyer erläuterte die konkrete Projektidee. Mit ihm zogen die jungen Leute in Zweierteams von Haus zu Haus und warben um Teilnahme der AnwohnerInnen. Über den Erfolg ihrer Aktion waren sie am Ende selbst überrascht. „Eigentlich habe ich nicht wirklich daran geglaubt, dass wir es schaffen, die Nachbarschaft zu mobilisieren. Und das noch an einem Wochenende!“, so der 23-jährige Hamid. Gemeinsam mit AnwohnerInnen, den Kölner Fachleuten und dem tunesischen Team haben er und seine KommilitonInnen im November 2015 Bäume und Sträucher gepflanzt, die jetzt auf der Freifläche vor der Ausbildungsstätte stehen. Hamid hatte im Vorfeld durchaus Bedenken, wie er mit so vielen fremden Menschen umgehen sollte: „Ich habe es mir schwierig vorgestellt, mit Leuten von außerhalb, die man gar nicht kennt, in Kontakt zu treten, um so ein Projekt zu realisieren. Man unterscheidet sich dann doch auch häufig in der Mentalität. Aber es ging erstaunlich gut. Ich habe viele neue Menschen kennengelernt und sogar Freundschaften geschlossen.“ Mit dieser Erfahrung war er sicher nicht der Einzige. Ganz unauffällig, aber sehr nachhaltig haben dabei alle Parteien ein Gespür dafür entwickelt, wie Demokratie und zivilgesellschaftliche Tugenden im Alltag gelebt werden können. Auch Politik und Verwaltung haben das große Potenzial der zivilgesellschaftlichen Entwicklungsförderung durch Urban Gardening erkannt. Die Erfahrung, dass es nicht nur ungefährlich, sondern geradezu bereichernd und aufregend sein kann, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, macht in anderer Weise neugierig auf die Welt. Hamid formuliert das sehr klar: „Wir hätten das Projekt ja auch allein mit den Leuten vom Berufskolleg realisieren können. Aber dann wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der Platz wieder verwahrlost. Wir sind also auf die Zusammenarbeit und Kommunikation mit der unmittelbaren Nachbarschaft angewiesen.“

Internationalen Austausch fördern

Der Biologe und Fachlehrer Jörg Restemeyer von der Kölner Abendrealschule (ARS) schloss sich dem Kölner Team für Tunis an, weil er von seiner eigenen Arbeit weiß, wie wichtig es ist, jungen Menschen aus schwierigen Lebenskontexten eine Perspektive zu geben. Damit, dass auch seine SchülerInnen in Köln durch sein Engagement an Selbstbewusstsein gewinnen würden, hatte er nicht gerechnet. Viele von ihnen haben selbst einen Migrationshintergrund und waren stolz darauf, dass ein Lehrer ihrer Schule bei diesem Projekt dabei war. Sie fühlten sich zugehörig und zeigten dies durch ein deutlich engagierteres Lernverhalten. Damit gaben sie den Impuls, nach Wegen der Zusammenarbeit zwischen der ARS in Köln und Ibn Sina in Tunis zu suchen. Das Auswärtige Amt wird für ein Jahr einen Schüleraustausch finanzieren. Im Vorfeld stellen sich die Jugendlichen über kurze Videoclips vor und erzählen von ihrem Leben in der jeweiligen Heimatstadt. Nach wie vor müssen die TunesierInnen zwischen Nobelpreis und Bombenattentaten, Chaos und Demokratie ihren Weg erst finden. Aber dieses Projekt zeigt: Es geht auch ohne Krieg und Bomben, selbst in der arabischen Welt. Mit einem Bruchteil an materiellen Kosten, aber einem riesigen Gewinn für die Menschen.

Claudia Vogelsang
Fachjournalistin, Gartentherapeutin und Gartenplanerin

Fotos: (v.o.n.u.) F. Kapteni

 

Förderprogramm für Schulpartnerschaften

VertreterInnen von Schulen, die eine Schulpartnerschaft mit Ländern Afrikas, Asiens, Latein-amerikas oder Südosteuropas aufbauen wollen, können sich für eine finanzielle und inhaltliche Förderung durch das Entwicklungspolitische Schulaustauschprogramm (ENSA) bewerben.
ENSA bietet einen finanziellen Zuschuss für Flugkosten, Projektkosten und Aufenthalt und begleitet die Schulgruppen durch die inhaltliche Vor- und Nachbereitung. Für SchülerInnen werden auf diese Weise globale Zusammenhänge praktisch erfahrbar, sodass sie ihren eigenen Standpunkt darin kritisch reflektieren können. Sie werden motiviert,  gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick zu nehmen und sich in ihrem Umfeld für eine gerechtere Zukunft zu engagieren. Das ENSA-Programm richtet sich an SchülerInnen ab 14 Jahren aller weiterführenden Schulformen in Deutschland und den jeweiligen Partnerländern. Ein besonderer Wert wird auf die Förderung von Jugendlichen aus strukturschwachen Gebieten und strukturell benachteiligte SchülerInnen gelegt.
Interessenbekundungen von allen weiterführenden Schulen in Deutschland, von Eltern- und Fördervereinen sowie von Nichtregierungsorganisationen in Kooperation mit Schulen können bis zum 5. September 2016 per E-Mail eingereicht werden. Der Projektantrag muss dann bis zum 30. September 2016 eingegangen sein. Die notwendigen Unterlagen, Bewerbungskriterien und weitere Hinweise zum Programm gibt es unter www.tinyurl.com/ENSA-Programm. Fragen zu Anbahnungsreisen und zur Antragstellung bitte per E-Mail an viktoria.jeske@engagement-global.de.

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