Soziale Gerechtigkeit: Keine Wahl?

Armutsquartiere zeichnen sich durch eine (extrem) geringe Wahlbeteiligung aus. Häufig ist über die Hälfte der Stadtteilbewohner*innen nicht wahlberechtigt, nämlich Minderjährige und nicht-deutsche Staatsbürger*innen. Aber warum gehen diejenigen, die wählen dürfen, nicht wählen?

Hierfür lassen sich drei zentrale Gründe, die in hohem Maße zusammenhängen, identifizieren: Erstens ist in diesen Sozialräumen Gestaltungspessimismus und Resignation allgegenwärtig. Das hat unter anderem damit zu tun, dass diese Räume eine hohe Fluktuationsrate aufweisen. Kurz gesagt: Wer kann, verlässt den Stadtteil. Die Fluktuation führt zu stabil niedrigen Mietpreisen, wodurch weiter einkommensschwache Menschen angezogen werden. Selbst wenn die sozialen Aufstiegschancen gut sind, verändert sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Quartiersbewohner*innen kaum. Diejenigen, die zurückbleiben, sehen positive Entwicklungen an ihnen vorbeiziehen. Diese Sockel- oder Bestandsbevölkerung resigniert und wird passiv.
Zweitens gibt es einen großen Teil der Stadtteilbewohner*innen, der sich unter prekären Verhältnissen und komplexen Rahmenbedingungen durchkämpft. Diese Menschen sind hoch aktiv, können sich zum Teil den Luxus, abstrakte politische Diskurse zu verfolgen, nicht leisten. Zurecht sagen viele: „Ja, wen soll ich denn wählen?!“
Und damit wären wir beim dritten Punkt: Der öffentliche Diskurs ist mittelschichts- und skandalorientiert, sodass er zielsicher an den Bedürfnissen und Interessen sowohl der Resignierten als auch der Alltagskämpfer*innen vorbeisteuert. Wer täglich konkrete Probleme zu bewältigen hat, kann mit abstrakten Diskussionen wenig anfangen. Dadurch entsteht der Eindruck einer systematischen Dethematisierung der (für sie) wichtigen Themen.
Der Erfolg des Rechtspopulismus lässt sich zum großen Teil damit erklären, dass er die Klientel der linken Parteien – SPD im Westen, DIE LINKE im Osten – anspricht. Man kann darauf mit Linkspopulismus reagieren – auch wenn diese Strategie nicht nachhaltig erscheint, wirkt sie vorläufig. Auf Dauer sollte man an den zentralen Problemen arbeiten: die Stadtteil- und Wohnungspolitik, die eine Durchmischung der sozialen Gruppen fördern sollte, sowie das Wahlrecht, das geöffnet werden müsste. Da aber lokal konzentrierte Probleme idealerweise auch lokal gelöst werden sollten, wäre eine Aufwertung der Kommunalpolitik sowie eine Umstrukturierung der Finanzierung von Kommunen bedenkenswert.


Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani lehrt und forscht an der Fachhochschule Münster zu den Themen Migration, Integration, Bildung und Jugend.


Foto: onemorenametoremember / photocase.de

 

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