Ungleiches ungleich behandeln

Studie der GEW NRW

Bildung ist in unserer Gesellschaft eine wichtige Voraussetzung für individuelle Lebenschancen, Selbstverwirklichung, beruflichen Erfolg sowie soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Bildungsarmut schränkt diese Partizipationschancen erheblich ein. Im Auftrag der GEW NRW steht die Studie „Standortfaktoren berücksichtigen – Bildungsgerechtigkeit erhöhen – Bildungsarmut bekämpfen“ kurz vor dem Abschluss.

Geringer qualifizierte Menschen sind besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen – und wenn sie erwerbstätig sind, dann zumeist in prekären Arbeitsverhältnissen nahezu ohne Arbeitsplatzsicherheit, mit niedrigen Löhnen, mangelndem Kündigungsschutz und hohen gesundheitlichen Belastungen. Unzureichender Bildungserfolg ist damit eine der zentralen Determinanten der intragenerationalen Kumulation sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf.

Reproduktion sozialer Ungleichheiten

Empirische Bildungsforschung zeigt immer wieder deutlich, dass der Lernerfolg besonders in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft der Bildungsteilnehmer*innen abhängt. Menschen aus bildungsfernen Schichten werden bereits früh in ihrem Leben aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt. Als gering qualifizierte Eltern werden sie in unserem Schulsystem dann wiederum selbst Ausgangspunkt sozialer Benachteiligungen für ihre Kinder. So wird soziale Ungleichheit intergenerational reproduziert.
Dieser Teufelskreis von intra- und intergenerationaler Reproduktion sozialer Ungleichheiten und Bildungsunterschiede wurde in den letzten Jahrzehnten nicht einmal ansatzweise aufgebrochen. Die immer noch existente hohe Kopplung von Sozialstatus und Bildungserfolg bleibt eine offene Wunde des deutschen Schulsystems. Sie ist verbunden mit einer großen Zahl von Bildungsverlierer*innen, die in empirischen Studien häufig als „Risikoschüler*innen“ bezeichnet werden. Ihr Anteil ist zwar in den letzten Jahren leicht zurückgegangen, verharrt aber auf einem inakzeptablen hohen Niveau.
Neben der individuellen sozialen Lage einzelner Kinder wirken sich auch Einflüsse der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft auf den Lernerfolg aus. Einschlägige Forschungsbefunde zur Wirkung auf die Schulleistungen belegen die vorrangige Bedeutung der leistungsbezogenen Zusammensetzung. Diese wiederum ist sehr stark von der besuchten Schulform in unserem selektiven Schulsystem und der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule abhängig.

Kontextspezifische Einflussfaktoren

Nach vorliegenden wissenschaftlichen Befunden ist davon auszugehen, dass neben den individuellen Merkmalen der Schüler*innen auch die Kompositionseffekte einer Lerngruppe Wirkung auf den Lernfortschritt und die Leistungsentwicklung haben. Solche kontextspezifischen Einflussfaktoren entstehen durch die soziale und migrationsspezifische Zusammensetzung der Schülerschaft, die durch die sozialräumliche Umgebung einer Schule bedingt wird.
Wenn auch die Wirkmechanismen der Kontextfaktoren auf den individuellen Kompetenz-erwerb und die Leistungsstärke von Schulen bisher nicht eindeutig geklärt werden konnten, so gibt es belastbare Belege dafür, dass die Zusammensetzung von Schüler*innen die Leistungserwartungen der Lehrkräfte und Lern- und Leistungsmilieus beeinflussen. Auch direkte Nachbarschaftseffekte der Wohnbevölkerung konnten nachgewiesen werden. Schüler*innen an Schulen mit ausgeprägten negativen Kompositionsmerkmalen sind somit benachteiligt gegenüber denen, die von einer privilegierten Schülerschaft umgeben sind – ungeachtet ihrer individuellen Voraussetzungen.

Ressourcen bedarfsgerecht verteilen

Viele der betroffenen Schulen sind aufgrund kumulierter Risikofaktoren nur bedingt in der Lage, diese kontextspezifischen Benachteiligungen zu kompensieren. Doch sie stehen genau vor der Herausforderung, ihre Schüler*innen dabei zu unterstützen, diese entstehenden Leistungsdefizite auszugleichen. Es ist daher eigentlich naheliegend, aber leider noch umstritten in unserer Gesellschaft, für die betroffenen Schulen mit schwierigen Ausgangslagen zusätzliche Ressourcen bereitzustellen, um durch zusätzliche pädagogische Förderung und Unterstützung Effekte der Schülerzusammensetzung zu kompensieren und chancenausgleichend wirken zu können. Ungleiches ungleich behandeln: Gleiche Bildungschancen sollen mit ungleichem Mitteleinsatz im Sinne einer „positiven Diskriminierung“ erreicht werden.    
Die Gewährleistung von Bildungsgerechtigkeit, die Aufbereitung von Bildungsangeboten und die qualitative Verbesserung von Bildungsabschlüssen sind folglich zentrale Herausforderungen für alle, die sich mit Bildungs- und Lernprozessen von Kindern und Jugendlichen befassen. 

Evidenzbasierte Bildungsforschung

In den letzten Jahren hat sich eine neue Steuerungsphilosophie mit der „Educational Governance“ etabliert, die Bildungsprozesse nicht mehr allein von den Bildungsinstitutionen her begreift, sondern von der Bildungsbiografie einer jeden einzelnen Person. Die optimale Entwicklung von Rahmenbedingungen für eine gelingende Entfaltung persönlicher Bildungsbiografien ist somit eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe.
Solch anspruchsvolle Ziele sind aber nur zu erreichen, wenn die Qualitätsentwicklung in Schulen auf Daten und belastbaren wissenschaftlichen Befunden basiert. Subjektive Einschätzungen und Rückmeldungen von beteiligten Personen sind zwar hilfreich, reichen aber nicht aus. Es ist folglich notwendig, die Ausgangslagen zu kennen, die gegebenen (un-)veränderbaren Rahmenbedingungen, Prozesse und Wirkungen zu analysieren, um so geeignete Maßnahmen zu entwickeln, die zu einer Verbesserung des Bildungsangebots und mehr Bildungsgerechtigkeit führen. Ziel evidenzbasierter Bildungsforschung in diesem Sinne ist es, systemrelevantes Steuerungswissen für Bildungsprozesse bereitzustellen und damit den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bildungspolitik und Schulpraxis zu unterstützen.
Nach einer Phase der Ernüchterung wird mittlerweile die Frage gestellt, ob es sich bei der Forderung nach evidenzbasierter Steuerung im Bildungsbereich nur um Rechtfertigungsrhetorik der stark expandierenden Bildungsforschung und ihrer politischen AuftraggeberInnen handelt oder tatsächlich um ernsthafte Optionen, nützliche Informationen zu generieren und diese für eine positive Schul- und Unterrichtsentwicklung zu nutzen. Nicht nur aus Gründen der Glaubwürdigkeit muss es daher darum gehen, wie vorhandene Daten effektiver als bisher genutzt werden können, um Schulentwicklung in Schulen mit schwierigen Ausgangslagen positiv zu gestalten.

Untersuchungsziele der Studie der GEW NRW

Vor dem Hintergrund der dargestellten schwierigen Ausgangslage von Schulen mit stark belastenden Kontextfaktoren ist es notwendig und längst überfällig, Lösungsansätze zu erarbeiten. Ausgehend von einschlägigen wissenschaftlichen Befunden und empirischen Daten soll daher in der Studie der GEW NRW geprüft werden, wie schlechten Leistungen von Schüler*innen in bestimmten Stadtteilen entgegengewirkt werden kann. Hierbei sollen Fragen effektiverer Steuerungen einbezogen werden – zum Beispiel durch einen schulbezogenen Sozialindex auf der Basis von transparenten Kriterien. Zudem sollen Vorschläge entstehen, wie Schulen mit schwierigem Lernumfeld durch bessere Ressourcen-ausstattung in die Lage versetzt werden können, ihre ungleichen Lernvoraussetzungen zu kompensieren: Ungleiches ungleich behandeln. Über die Ressourcenfrage hinaus soll aber auch untersucht werden, wie weitere systemische Unterstützung für die Schulen geleistet werden müsste und welche Maßnahmen die Schulen selber ergreifen könnten.  

Prof. Dr. Gabriele Bellenberg
Professorin für Schulforschung und Schulpädagogik; Prodekanin der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

Gerd Möller
Mitherausgeber der Zeitschrift „SchulVerwaltung NRW“ und Mitarbeiter im Schulministerium a. D.

Werner Fuchs
Leiter des Büros Bildungsregion Duisburg / Leitender Verwaltungsdirektor (a. D.) und Dezernent Schulaufsicht Gymnasium, Schwerpunkt Sozialwissenschaften und Erkunde (a. D.)

Fotos (v. o. n. u.): Milan_Jovic, Przemyslaw Rzeszutko / istockphoto.com

 

Schwerpunkte

Die von der GEW NRW in Auftrag gegebene Studie „Ungleiches ungleich behandeln: Standortfaktoren berücksichtigen – Bildungsgerechtigkeit erhöhen – Bildungsarmut bekämpfen“ erscheint voraussichtlich zu Beginn des Schuljahres 2016 / 2017. Die AutorInnen der Studie sind Dr. Gabriele Bellenberg, Gerd Möller und Werner Fuchs. Das Herzstück der empirischen Forschung werden die Kapitel „Datengestützte Steuerung“ sowie „Unterstützung von Schulen in schwierigen Lagen“ sein. Dabei wird unter anderem untersucht, wie Schulen bei der Datennutzung und Dateninterpretation besser unterstützt werden und wie Schulen datengestützte Ziele setzen und überprüfen können. Weitere Schwerpunkte werden sein:

  • Bereitstellung von auf Wirkung geprüften Förderprogrammen
  • Fokussierung von Lehrerfortbildung auf den Schulstandort
  • Unterstützung durch Lehramtsstudierende und Teach-First-Lehrkräfte
  • Netzwerke als Entwicklungsstrategie
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