Gut betreut nach der Schule

Ganztag in NRW: Ausbaustand im Bundesländervergleich

Der zu Beginn des 21. Jahrhunderts niedrige Ausbaustand von Ganztagsschulen in NRW entsprach den ablehnenden Einstellungen, die die Debatten um ganztägige Schulen bis dahin geprägt hatten. Mit der Zeit fanden die Angebote in gebundener und offener Form jedoch immer mehr Anklang.

Im Schuljahr 2002 / 2003 besuchten in Nordrhein-Westfalen lediglich 15 Prozent aller SchülerInnen der Primar- und der Sekundarstufe I Ganztagsschulen. Deutschlandweit waren es damals knapp zehn Prozent – bei einer Spannweite, die von 2,3 Prozent in Bayern bis zu 22,3 Prozent in Sachsen reichte. Gut illustriert wurde die Situation 1980 durch den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth vor dem Landtag: „Wir brauchen die vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Elternhaus und Schulen; den gefährlichen Tendenzen zur Ganztagsschule, die den elterlichen Einfluss entscheidend schmälert, werden wir nicht folgen.“

Forderung nach mehr Betreuung steigt

Die vor drei Jahrzehnten noch breit getragene Abwehr gegenüber Ganztagsschulen bröckelte in den Folgejahren zusehends. Zum einen stand und steht sie immer stärker im Widerspruch zu den Interessen junger Familien und alleinerziehender Mütter und Väter. Alleinerziehende möchten ihre erworbenen beruflichen Qualifikationen nutzen und müssen dies häufig auch, oft aber werden sie daran durch die fehlende Ganztagsbetreuung ihrer Kinder gehindert. Zum anderen mehrten sich infolge der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie von 2001 die Stimmen, die beklagten, dass Kinder und Jugendliche in der Schule zu wenig individuell gefördert werden. BefürworterInnen verwiesen darauf, dass Ganztagsschulen organisatorisch und zeitlich einen geeigneteren Rahmen für ein Mehr an individueller Förderung bieten könnten.
Inzwischen fordert auch die Wirtschaft den Ausbau von Ganztagsschulangeboten. Mit Blick auf die demografische Entwicklung verweisen ihre VertreterInnen auf die Notwendigkeit, gut qualifizierten jungen Müttern die Aufnahme beziehungsweise die Fortführung einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.
Auf diesen sich anbahnenden Sinneswandel reagierte die Bundesregierung 2003 mit dem „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ für den Ausbau von Ganztagsschulen. Im Rückblick kann dieses mit vier Milliarden Euro ausgestattete Programm als Initialzündung und Treiber einer Entwicklung eingeschätzt werden, die die Zahl der Ganztagsschulplätze in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß hochschnellen ließ. Innerhalb von gut zehn Jahren stieg die Anzahl der Plätze deutschlandweit von 9,8 auf 37,7 Prozent.

Definition: Ganztag offen und gebunden

Die von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgegebenen Definitionen quantitativer und struktureller Mindeststandards einer Ganztagsschule sowie die Unterscheidung zwischen der offenen und der gebundenen Ganztagsschule sind wie folgt definiert:

  • Ganztagsschulen bieten an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für SchülerInnen an.
  • Diese ganztägigen Angebote umfassen mindestens sieben Zeitstunden.
  • Ganztagsschulen stellen an allen Tagen für die teilnehmenden SchülerInnen ein Mittagessen bereit.
  • Die Ganztagsangebote werden unter Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit ihr durchgeführt. Sie stehen in konzeptionellem Zusammenhang mit dem Unterricht.
  • Unter offenen Ganztagsschulen versteht die KMK Schulen, in denen einzelne SchülerInnen an den Ganztagsangeboten teilnehmen können.
  • Als gebundene Ganztagsschulen gelten solche, in denen sich alle SchülerInnen oder ein Teil von ihnen zur Teilnahme an den Ganztagsschulangeboten verpflichten. Nur in gebundenen Ganztagsschulen nach dieser Definition lässt sich der Unterricht auf den gesamten Schultag verteilen.
Gut betreut nach der Schule

NRW im Ländervergleich weit vorne

Bei Berücksichtigung dieser Mindeststandards und Definitionen bildet sich für das Schuljahr 2014 / 2015 folgendes Bild:
Deutschlandweit besuchten 37,7 Prozent aller SchülerInnen der Primar- und der Sekundarstufe I Ganztagsschulen. Hinter diesem Durchschnittswert verbirgt sich allerdings eine bemerkenswerte länderspezifische Verteilung der Teilnahmequoten. Während in Bayern nur 15 Prozent der SchülerInnen Ganztagsschulen besuchten, waren es in Sachsen 79,3 Prozent. Innerhalb dieser Spannweite liegt Nordrhein-Westfalen mit 44 Prozent im oberen Mittelfeld – nur deutlich übertroffen von Sachsen und den Stadtstaaten Hamburg mit 88,3 Prozent und Berlin mit 64,2 Prozent.
Im Durchschnitt aller Bundesländer verteilt sich die Teilnahme an Ganztagsangeboten innerhalb der 37,7 Prozent zu 17,6 Prozent auf die gebundene und zu 20,2 Prozent auf die offene Form, wobei sich der Unterschied in der Summenbildung aus Rundungseffekten ergibt.
Bei den Teilnahmequoten an gebundenen Ganztagsschulen sind die drei Stadtstaaten mit Werten leicht oberhalb von 30 Prozent die Spitzenreiter. Unter den Flächenländern nimmt Nordrhein-Westfalen mit 28,5 Prozent gemeinsam mit Sachsen (28,9 Prozent) die Spitzenposition ein. Schlusslichter mit Werten von deutlich unter zehn Prozent sind Hessen und Schleswig-Holstein.
In Nordrhein-Westfalen finden sich bei den Teilnahmequoten sehr deutliche schulstufen- und schulformspezifische Unterschiede. Mit 98,5 Prozent nutzen nahezu alle GesamtschülerInnen Ganztagsangebote – die meisten in gebundener Form. Bei den übrigen Schulformen reichen die Beteiligungsquoten von nur 19,4 Prozent bei den Realschulen und 23,9 Prozent bei den Gymnasien bis hin zu 85,2 Prozent bei den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen. Während diese weiterführenden Schulen sowie die Gesamtschulen durchgängig als gebundene Ganztagsschulen geführt werden, bezieht sich das Angebot der Grundschulen meist auf den offenen Ganztag. Von den insgesamt 40,6 Prozent der GrundschülerInnen, die Ganztagsangebote nutzen, besuchen nur 0,5 Prozent eine gebundene Ganztagsschule.

Ganztagsangebot noch ausbaufähig

Abschließend muss mit Blick auf die im Bundesländervergleich eher hohe Ganztagsschulquote von 44 Prozent aber darauf verwiesen werden, dass das Ganztagsschulangebot in Nordrhein-Westfalen trotz der unverkennbaren Ausweitung seit Beginn dieses Jahrhunderts immer noch weit hinter der Nachfrage liegt. Die 2014 veröffentlichte JAKO-O Bildungsstudie ergab auf der Grundlage einer repräsentativen Befragung von Eltern mit schulpflichtigen Kindern im Alter von bis zu 16 Jahren, dass deutschlandweit 70 Prozent aller Befragten für ihre Kinder Ganztagsschulplätze wünschten – 30 Prozent in der gebundenen und 40 Prozent in der offenen Ganztagsschule.
Die Präferenz für die offene Ganztagsschule macht deutlich, dass Eltern mehrheitlich die Betreuung ihrer Kinder und damit die Ermöglichung ihrer Erwerbstätigkeit erwarten. Die erweiterten pädagogischen Möglichkeiten gebundener Ganztagsschulen, die sich aus einer anderen Verteilung unterrichtlicher und außer-unterrichtlicher Aktivitäten im Tagesverlauf ergeben, stehen ganz offensichtlich nicht im Vordergrund der Erwartungen von Eltern.
Trotz der im Bundesländervergleich guten Platzierung Nordrhein-Westfalens bleibt also noch viel zu tun.

Prof. em. Dr. Klaus Klemm 
Bildungsforscher 

Fotos: spass, Oksana Kuzmina / Fotolia.com

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