Das Ehrenamt stärken: „Man braucht einen langen Atem”

Best Practice aus den Niederlanden

Der niederländischen Bildungsgewerkschaft AOb (Algemene Oderwijsbond) gelingt es schon seit Jahren, Ehrenamtliche für eine Mitarbeit zu gewinnen – mithilfe eines Gehaltsmodells. Was sich dahinter verbirgt? Darüber sprach die nds mit Frits Fraanje, Deutschlehrer und Mitglied im Hauptvorstand der AOb.

nds: Die AOb steckt schon länger in einem Prozess, der die Gewerkschaft fit machen soll für die Zukunft. Was war der Grund dafür, die Organisationsentwicklung voranzutreiben?

Fritz Fraanje: Ähnlich wie in Deutschland haben wir große Probleme, junge Leute für eine Mitgliedschaft zu gewinnen. Gewerkschaften gelten als altmodisch, als eine Art Fossil. Angeblich kämpfen dort alte, grauhaarige Leute für ihre eigenen Interessen, so stellen es immer wieder auch die Medien dar.

Ist da was dran? Die Tagesordnungen von Gewerkschaftssitzungen zum Beispiel wirken oft langweilig und wenig einladend für Leute, die sich ehrenamtlich engagieren könnten.

Klar, die Art der Kommunikation wirkt manchmal ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Für die AOb ist es wichtig zu zeigen, dass wirklich aktive Leute, die noch im Unterricht tätig sind –
so wie auch ich –, zugleich ehrenamtlich für die Gewerkschaft arbeiten. Und dazu haben wir eine Struktur entwickelt, in der man sozusagen detachiert werden kann.

Detachiert? Was bedeutet das?

Auf Deutsch würde man vielleicht „ausgeliehen“ sagen. Das heißt, ich bin offiziell weiterhin zu hundert Prozent an einer Schule beschäftigt, werde aber für zwei Tage freigestellt. Und für diese Tage zahlt dann die Gewerkschaft den Gehaltsausfall. Ein offizieller Kontrakt legt das fest. 

Auf diese Weise gelingt es der AOb, den Interessierten die notwendigen zeitlichen Ressourcen für das ehrenamtliche Engagement zu verschaffen?

Ja, das ist im ganzen Land so organisiert und zwar nicht nur für regionale oder überregio-nale Vorstandsmitglieder, sondern auch für die*der sogenannte Konsulent*in, zu deutsch Ratgeber*in oder Kontaktperson. Das sind aktive Lehrkräfte, die auf Zeit ausgeliehen werden an die Gewerkschaft. Meist donnerstags besuchen sie Schulen, treten in Kontakt mit den Kolleg*innen, sprechen über gewerkschaftliche Themen. So werden nicht nur wichtige Informationen an die Lehrkräfte weitergegeben. Sondern umgekehrt hören die Konsulent*innen natürlich auch, welche Probleme an den Schulen dringlich sind, und können das zurück an die Gewerkschaft kommunizieren.

Ist es das vorrangige Ziel, dadurch neue Mitglieder für die AOb zu gewinnen? Oder geht es eher darum, erstmal den Kontakt der Lehrkräfte zur Gewerkschaft zu verbessern?

Eigentlich beides. Wenn man vor Ort mit den Kolleg*innen ins Gespräch kommt, ist der Kontakt da. Und natürlich versucht man auch, neue Mitglieder zu werben. Und die, die schon Mitglied sind, wollen wir natürlich auch als Mitglieder behalten. Dafür müssen wir immer wieder etwas tun.

Das Ausleihen an die Gewerkschaft ist nicht ganz billig. Die AOb muss anteilig die Gehälter bezahlen an diesen Tagen.

Ja, das kostet unheimlich viel Geld. Aber es ist in den Niederlanden schon sehr lange so, dass die Regierung Gelder zur Verfügung stellt, damit zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Gewerkschaften im demokratischen System agieren können. Von dieser Förderung profitiert die AOb auch bei diesem Projekt. Es muss also nicht allein aus Mitgliedsbeiträgen finanziert werden.

Seit wann läuft das Projekt schon?

Fast 20 Jahre. Die AOb ist im Jahr 2000 aus einer Fusion von verschiedenen Bildungsgewerkschaften entstanden. Und schon bald darauf hat man dieses System entwickelt, um Ehrenamtliche zu beteiligen.

Wurden dadurch denn tatsächlich neue Mitglieder gewonnen?

Wir sind nicht die einzige, aber eine der weni-gen Gewerkschaften in den Niederlanden, die wächst. Inzwischen haben wir ungefähr 83.000 Mitglieder. Neben dem geschilderten Projekt veranstalten wir regelmäßig Aktionswochen oder sogar Streiks und auch das bringt immer neue Mitglieder.

In der gewerkschaftspolitischen Diskussion in Deutschland gibt es das Konzept der Freiwilligen auf Zeit. Das beruht auf der Erfahrung, dass gerade junge Leute sich nicht mehr so lange auf ein Engagement festlegen wollen. Erprobt ihr auch Konzepte, wie man Interessierte etwas lockerer mit der Gewerkschaft verknüpfen kann?

Auch in den Niederlanden wollen sich junge Leute nicht mehr auf so lange Zeit binden. In unserem Modell besteht deshalb die Möglichkeit, schon nach einem Jahr wieder zu kündigen. Das ist also immer ein befristeter Kontrakt. Unsere Erfahrung ist aber, dass die Leute länger dabei sind, meist für vier Jahre.

Wo arbeiten denn diejenigen, die an die Gewerkschaft ausgeliehen sind? Sitzen die in einem Büro der AOb?

Das ist unterschiedlich. Die ehrenamtlich Aktiven, die regelmäßig die Schulen besuchen, sind regionalen Bezirken zugeordnet. Sie gehören also zu einem Bezirksteam, haben aber meist kein eigenes Büro wie die hauptamtlichen, von der Gewerkschaft bezahlten Funktionär*innen.

Haben die Schulen keine Probleme, diese Lehrkräfte zu ersetzen? Durch das Ausleihen können ja Engpässe entstehen.

Dieses Problem ist vor allem in den letzten Jahren entstanden, weil wir für einige Fächer zu wenig Lehrer*innen und auch zu wenig Studierende für das Lehramt haben. Ich persönlich erlebe aber immer wieder, dass Schulleitungen das gewerkschaftliche Engagement für eine positive Idee halten. Andererseits weiß ich, dass junge Leute, die noch keine feste Stelle an einer Schule haben, manchmal zögern, sich zu engagieren. Sie fragen sich: Ist das gut für meine Karriere, für meine berufliche Laufbahn? Bei ihnen merkt man schon, dass sie eher zurückhaltend sind.

Wie kann man diesen Ängsten begegnen? Ein Argument wäre: Die Tätigkeit in der Gewerkschaft ist ein Baustein für die Karriere, da entwickelt man sich weiter. Das ist etwas Positives, weil es den Erfahrungshorizont erweitert.

Absolut. Unsere ehrenamtlich Engagierten sind häufig besonders aktive Lehrer*innen, die das Leben an der Schule bereichern. Und das sehen auch viele Schulleitungen und die Schulbehörden so. Allerdings leider nicht alle, da muss man ehrlich sein.

Euer Projekt hat eine Vorbildfunktion, ist ein Beispiel für Best Practice. Aber es gibt auch Hindernisse.

Wir merken, dass wir wirklich unser Bestes tun müssen. Viele Leute haben nicht mehr das Gefühl, dass Gewerkschaften noch wichtig sind. Auf der anderen Seite merken sie aber bei Konflikten doch, wie nötig Solidarität ist. Das neoliberale Denken ist ähnlich wie in Deutschland längst auch in den Schulen angekommen. Man wird als Lehrkraft ständig unter Druck gesetzt, Leistungen zu erbringen, die auch als Daten messbar sind. So hat man immer weniger Zeit, sich mit dem eigentlichen Kerngeschäft zu beschäftigen: der Bildung. Alles, was nicht direkt nützlich und wirtschaftlich ist, gilt als nebensächlich. Im Unterricht geht es nach meinem Verständnis nicht nur um Noten oder Leistung, sondern darum, ins Gespräch zu kommen mit den Kindern und Jugendlichen, über das ganze Leben. Und das wird immer schwieriger.

Was kann die deutsche Bildungsgewerkschaft GEW von der AOb lernen? Hast du Tipps und Ratschläge?

Solidarität ist für mich ein Schlüsselwort: Aber man muss die Menschen erstmal überzeugen, dass diese notwendig ist. Man muss die Kolleg*innen immer wieder direkt darauf ansprechen, warum sich eine Mitgliedschaft lohnt. Das ist ein zäher Prozess, für den man einen langen Atem braucht.

Welche Erfahrungen machen Ehrenamtliche, wenn sie im Lehrerzimmer für die Gewerkschaft werben?

Es gibt positive Reaktionen, die sehr motivieren. Aber es ist manchmal auch demotivierend, wenn Leute sagen, mir geht es doch eigentlich gut, ich brauche das nicht. Der Solidaritäts-gedanke lebt eben noch nicht bei allen.

Spielen neue Techniken und soziale Medien in eurem Prozess eine Rolle?

Twitter, Facebook und Instagram werden für uns als Kommunikationsmittel immer wichtiger. Und es gibt Leute, die gründen zum Beispiel eine Facebookgruppe mit einem originär gewerkschaftspolitischen Anliegen, sind aber gar nicht in der Gewerkschaft. Die können etwa bei Streiks oder vor Demonstrationen schnell mobilisieren, kriegen viele Menschen in kurzer Zeit hinter sich. Wir sollten diesen schnellen Leuten nicht den Eindruck vermitteln, dass wir als Gewerkschaft langsam sind.


Die Fragen stellte Thomas Gesterkamp.

Fotos: nugget16, Catalenca, jbkfotos / photocase.de

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