TVöD-Tarifrunde: Stark umkämpfte Sorgearbeit

Arbeitsbedingungen zum Thema machen

Die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) leiden vor allem unter den Arbeitsbedingungen in ihren Einrichtungen. Damit die Gewerkschaften das Thema endlich in der nächsten Tarifrunde aufgreifen können, müssen drei Bedingungen erfüllt sein.

Das öffentliche Interesse an den Arbeitskonflikten in sozialen Dienstleistungen ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass Streiks in Krankenhäusern, Pflegediensten oder Kitas rein quantitativ zugenommen haben, aber auch damit, dass Streiks in diesen Bereichen schnell für viele Menschen sicht- und spürbare Folgen haben. Insgesamt scheint das gesellschaftliche Bewusstsein dafür gewachsen zu sein, dass es in Bereichen der sozialen Daseinsfürsorge systematische Probleme gibt, die aktuell und zukünftig (fast) alle Menschen betreffen, die mit der Umstrukturierung dieser Bereiche eng verbunden sind.

Privatisierung und Geschlechterverhältnisse ändern Sorgearbeit

Der Begriff „Sorgearbeit“, der ursprünglich aus dem englischen Sprachraum stammt, umfasst alle Tätigkeiten des Sichkümmerns. Dazu zählt Altenpflege genauso wie Kindererziehung. Hintergrund der Veränderungen innerhalb des gesamten Tätigkeitsfelds sind zwei parallele Entwicklungen: Erstens wird Sorgearbeit vor dem Hintergrund eines Umbaus des Wohlfahrtsstaates neu organisiert, vor allem wurden staatliche Leistungen im Pflege-, Gesundheits- und Erziehungsbereich verstärkt privatisiert und nach wirtschaftlichen Kriterien ausgerichtet. Zweitens verändern sich alltägliche Geschlechterverhältnisse – so wird beispielsweise die Übernahme unbezahlter Pflege- und Betreuungsarbeit im Familienzusammenhang durch Frauen immer weniger selbstverständlich. In der soziologischen Forschung werden diese beiden Entwicklungen, zum Beispiel von Brigitte Aulenbacher und Maria Dammayr, als Krise der Reproduktion zusammengefasst. Spannungen und Konflikte entstehen etwa dadurch, dass die erweiterte gesellschaftliche Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen nicht auf die Bereitschaft trifft, diese Leistungen entsprechend zu finanzieren. Eine Folge ist die paradoxe Entwicklung, dass sogar ein Ausbau von Dienstleistungen, wie beispielsweise im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste, auf Kosten von Beschäftigten und Arbeitsqualität gehen kann: So werden etwa neue Kitaplätze geschaffen, die Ansprüche von Eltern steigen im Takt mit den Dokumentationspflichten, die PISA-Panik will einfach nicht verschwinden – und der Arbeitsalltag wird oft immer stressiger.

Immerhin würde es mittlerweile kaum ein*e Politiker*in wagen, abschätzig über die Arbeit von Erzieher*innen zu sprechen. Eine Bereitschaft, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, leitet sich daraus aber noch nicht ab. Die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst von 2009 und 2015 sowie breitere soziale Bewegungen für bessere Bedingungen in Kitas, wie aktuell zum Beispiel in Hamburg, haben hier ihre Grundlage. Die Arbeitskämpfe von 2009 und 2015 haben zwar zu einigen Verbesserungen in der Gehaltsstruktur und für einige Gruppen zu bemerkenswerten Erhöhungen des tariflichen Entgelts geführt, dennoch scheint das Ziel der gleichen Löhne für vergleichbare Arbeit noch immer weit entfernt zu liegen. Die Arbeitgeber*innenhaltung in der laufenden Tarifrunde des öffentlichen Dienstes bestätigt das einmal mehr: Bund und Kommunen plädieren für höhere Gehälter für Führungskräfte, statt das massive Lohngefälle zu reduzieren, wie es von den Gewerkschaften gefordert wird. Die Tarifpolitik ist oft hilflos, wenn es um den Abbau belastender Arbeitsbedingungen geht, was die im SuE-Bereich 2009 verabredeten Regelungen zum Gesundheitsschutz deutlich zeigen.

Wer nach Gründen für diesen merkwürdigen Umstand sucht, stellt fest, dass Bedingungen, Ressourcen und Möglichkeiten interessenpolitischen Handelns von Beschäftigten auch von der Struktur des betreffenden Sektors abhängen. Wichtig ist, ob sich kollektive, gewerkschaftliche Aktionen gegen einen Großkonzern oder eine*n kleine*n kommunale*n Träger*in richten. Einen grßen Unterschied macht auch, ob das kirchliche Arbeitsrecht Anwendung findet. An den Kitastreiks waren fast ausschließlich Beschäftigte beteiligt, die in kommunalen Kitas arbeiten. Sie haben zwar Einfluss auf das Gelingen des Arbeitsprozesses und üben durch Zurückhalten ihrer Arbeitskraft massiven Druck aus, ihre Arbeitgeber*innen treffen sie damit aber nur bedingt. Besonders deutlich wurde das im Streik von 2015: Die Kommunen haben teilweise, anders als das in der Privatwirtschaft der Fall wäre, durch den Streik sogar noch Geld gespart. Den Schaden erlitten vor allem die Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen mussten. Trotz einer anfänglich sehr großen allgemeinen Sympathie für den Arbeitskampf der Erzieher*innen gingen die Eltern am Ende ziemlich auf dem Zahnfleisch und artikulierten das zum Teil öffentlich.

Zentrale Herausforderungen für die Gewerkschaftsbewegung

Aus dem Arbeitskampf von 2015 leiten sich drei große Herausforderungen für die Gewerkschaftsbewegung ab: Erstens müssen Nicht-beschäftigte, insbesondere die Nutzer*innen von sozialen Dienstleistungen, in die Vorbereitung und Durchführung von Arbeitskämpfen rechtzeitig und systematisch eingebunden werden. Ohne eine gut vorbereitete Einbindung, auch auf Grundlage solidarischer und selbstorganisierter Übernahme von Betreuungsaufgaben, ist es nicht möglich, das Ziel einer grundlegenden Verbesserung der Arbeitsverhältnisse zu erreichen. In den Streiks geht es nicht nur darum, die Produktion lahmzulegen, sondern auch darum, soziale Fantasien für eine andere Art der Betreuung und eine andere Einbindung von Eltern und Kindern zu entwickeln. Der Streik kann sogar eine Art Labor für eine veränderte Eltern-Erzieher*innen-Kooperation sein. Es mag utopisch klingen, aber in einigen Fällen hat es solche Ansätze 2015 durchaus gegeben, etwa in der Kooperation mit Elterninitiativen im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg oder im Rahmen der Streikbeteiligung von Kitas in Eigeninitiative.

Die zweite Herausforderung betrifft die Demokratisierung des Arbeitskampfs. Beteiligungsorientierte Gewerkschaftspolitik wird, vor allem in Bezug auf die Organisierung auf betrieblicher Ebene, seit Jahren in vielen Gewerkschaften erprobt. Was die Beteiligung von Beschäftigten betrifft, war der Kitastreik im Rahmen der SuE-Tarifrunde vielen Beobachter*innen zufolge vorbildlich: Nicht nur auf lokaler, sondern auch auf zentraler Ebene bestimmten Streikdelegierte über Verlauf und Ergebnis mit. Allerdings können solche zarten Blüten direkter Gewerkschaftsdemokratie leicht zerstört werden, wenn die Delegierten an entscheidender Stelle, wie 2015 bei der Auseinandersetzung um die Schlichtung und den Schlichterspruch doch nicht beteiligt werden. Bei den kommenden Auseinandersetzungen um die Tarifverträge muss Demokratie konsequent gelebt werden.

Die dritte Herausforderung bezieht sich auf die Frage der Reichweite von Tarifpolitik. Die tarifpolitische Arithmetik erlaubt es nicht, alle Betriebe in einen Arbeitskampf einzubinden, weil weite Bereiche des SuE nicht Teil der Verhandlungen sind. Darüber hinaus ist das Spektrum an Forderungen, die durch einen Streik bearbeitet werden können, begrenzt: Vor allem die Lohnhöhe steht zur Disposition. Doch verschiedene Untersuchungen haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass den Beschäftigten der Schuh vorrangig an anderer Stelle drückt. Vielen geht es vor allem um bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere Ausstattung mit Personal, eine bessere Qualität der erbrachten Dienstleistung.

Bessere Arbeitsbedingungen sind ein Ziel für die Tarifrunde 2020

Aktuell wird in den Gewerkschaften darüber diskutiert, ob es eine neue große Streikbewegung im Sozial- und Erziehungsdienst 2020 geben kann. Dazu muss dreierlei zusammenkommen: günstige Gelegenheitsstrukturen, schlechte materielle Bedingungen und ein moralischer Referenzrahmen, wonach sich die Beschäftigten unangemessen, unwürdig und ungerecht behandelt fühlen sowie der Überzeugung sind, dass sich daran etwas ändern lässt. Wie sich die Dinge diesbezüglich entwickeln werden, bleibt im Moment noch abzuwarten. Nicht zuletzt wird die Frage gestellt werden müssen, wie unter Berücksichtigung der Kämpfe um Personalbemessung in den Krankenhäusern die Arbeitsbedingungen im SuE (wieder) zum tarifpolitischen Thema werden können. Sicher ist nur, dass die Streiks im SuE Tendenzen repräsentieren, die eine sehr weitgehende Veränderung des Terrains signalisieren, das die Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Kämpfe bestimmt.

Peter Birke
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Göttingen

Stefan Kerber-Clasen
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg

Foto: iStock.com / SolStock (Frau), Fotos: PolaRocket, busdriverjens / photocase.de

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