Fördern statt aussortieren

Bochumer Memorandum 2011 bis 2017: Klassenwiederholungen

Schulisches Versagen kann unterschiedliche Facetten aufweisen. Die bekannteste Form aber ist nach wie vor die Klassenwiederholung, deren Nutzen für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn schon seit 
Längerem stark bezweifelt wird. Das Bochumer Memorandum untersucht die Wiederholungsquoten seit dem Schuljahr 2010 / 2011 – und es zeigt auch, wie es anders gehen kann.

Eine Klassenwiederholung kommt zum Einsatz, wenn SchülerInnen das Klassenziel in mindes-tens zwei Hauptfächern oder einem Haupt- und zwei Nebenfächern nicht erreicht haben. Die Wiederholung hat zum Ziel, die (vermeintliche) Leistungshomogenität der Klasse wiederherzustellen und den betroffenen SchülerInnen ein Jahr zusätzliche Zeit zur Verfügung zu stellen, um ihre Leistungen zu verbessern.
In den letzten Jahren ist die Klassenwieder-holungsquote in NRW konstant niedrig geblieben: Im Schuljahr 2010 / 2011 lag sie gemittelt über alle Schulen bei 2,2 Prozent, im Schuljahr 2014 / 2015 bei 2,1 Prozent. Dieser Rückgang ist auch durch das mittlerweile beendete Landesprogramm „Komm mit! Fördern statt Sitzenbleiben“ erreicht worden, das durch die GEW NRW initiiert und besonders unterstützt wurde.

Das Wiederholungsrisiko ist schulformabhängig

Hinter dieser durchschnittlichen Quote ver-bergen sich schulstufenspezifisch unterschiedliche Risiken: In den Grundschulen fiel es im Schuljahr 2014 / 2015 mit 0,8 Prozent am geringsten aus, während es in der Sekundarstufe I auf durchschnittlich 2,5 Prozent anstieg und in der Sekundarstufe II bei durchschnittlich 2,4 Prozent lag. Zugleich zeigten sich innerhalb der Sekundarstufe I erhebliche Unterschiede zwischen den Schulformen: Während an den Hauptschulen (6,2 %) und Realschulen (3,4 %) Klassenwiederholungen überproportional häufig vorkommen, sind an Gymnasien (1,4 %), Sekundarschulen (1,3 %) und Gesamtschulen (1,1 %) deutlich weniger SchülerInnen betroffen.
Für das Gymnasium geht diese Entwicklung einher mit einem deutlichen Anstieg von SchülerInnen, die am Ende der Primarstufe keine ausschließliche Empfehlung für das Gymnasium bekommen haben: Im Schuljahr 2010 / 2011 waren es 15 Prozent, im Schuljahr 2014 / 2015 bereits 21 Prozent. Zugleich gibt es nur eine geringe Steigerung der Abschulungsquoten von den Gymnasien zu den Realschulen – von 1,2 auf 1,4 Prozent – und Gesamtschulen – von 0,2 auf 0,3 Prozent.
Während die Wiederholungsquoten zwischen den Eckjahren an den übrigen Schulformen nahezu unverändert geblieben sind, verzeichnet einzig die Hauptschule, die von immer weniger SchülerInnen besucht wird, einen erheblichen Anstieg der Klassenwiederholungsquote: In 2010 / 2011 wiederholten 4,2 Prozent der SchülerInnen ein Schuljahr, 2013 / 2014 waren es 5,1 Prozent und im laufenden Schuljahr sind es 6,2 Prozent. Da die Schulstatistik KlassenwiederholerInnen nach dem Durchführungsprinzip zählt – also der Schulform zurechnet, auf der die Wiederholung realisiert wird –, verbergen sich hinter dieser hohen Quote an den Hauptschulen auch AbsteigerInnen von Realschulen und Gymnasien. So kommt es an den Hauptschulen zu einer mehrfachen Problemverdichtung, schließlich ist seit den PISA-Studien zudem bekannt, dass GrundschulwiederholerInnen überwiegend an Hauptschulen lernen.
Das höchste Klassenwiederholungsrisiko zeigt sich an Hauptschulen in den Klassenstufen 7 mit 7,1 Prozent und 9 mit 10,8 Prozent. In der Klasse 9 dürften dazu vor allem SchülerInnen beitragen, die diese Jahrgangsstufe wiederholen, um den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 überhaupt erreichen zu können oder um bessere Abschlussnoten zu erzielen. Unverändert gilt: In der gesamten Sekundarstufe I zählen Jungen mit 3,0 Prozent  häufiger als Mädchen mit 2,0 Prozent zu den WiederholerInnen.

Fördern statt Aussortieren
Fördern statt Aussortieren

Ehrenrunde ohne spürbaren Effekt 

Die Forschung hat die Klassenwiederholung schon länger als eine Maßnahme enttarnt, die nicht als Förderung für betroffene SchülerInnen gelten kann, denn sie trägt in der Regel nicht zur (intendierten) Leistungssteigerung bei. Selbst ein Vergleich von leistungsschwachen Grundschulkindern, die eine Klasse wiederholen, zu gleich leistungsschwachen Kindern, die regelversetzt wurden, zeigt keinen Vorsprung der WiederholerInnen. Zugleich erhöht sich durch eine Klassenwiederholung die Wahrscheinlichkeit, die Schule ohne formalen Abschluss zu verlassen. Auch die Annahme, dass durch das Aussortieren leistungsschwacher SchülerInnen die Lernentwicklung der abgebenden Klasse gesichert werden könne, ist widerlegt. Mit Blick auf das Begabungskonzept der sitzen gebliebenen SchülerInnen zeigen sich in unterschiedlichen Untersuchungen kurzfristig positive Effekte, die allerdings im weiteren Verlauf wieder abnehmen.
Klassenwiederholungen einzig als Reaktion auf ein Leistungsversagen von SchülerInnen zu interpretieren greift zu kurz, denn auch die  Einstellungen und Vorannahmen der LehrerInnen spielen eine Rolle. So neigen Lehrkräfte dazu,  WiederholerInnen in ihrer Leistungsfähigkeit zu unterschätzen. Zudem kann gezeigt werden, dass Lehrkräfte, die die eigene Unterrichts-gestaltung als mögliche Ursache für Lernschwierigkeiten in ihre Überlegungen einbeziehen, Klassenwiederholungen seltener einsetzen als KollegInnen, die ausschließlich die individuellen Leistungen der SchülerInnen ins Kalkül ziehen. Kooperativ arbeitende Lehrerkollegien – so ein Befund der wissenschaftlichen Begleitung zum Projekt „Komm mit!“ – weisen niedrigere Wiederholungsquoten auf als solche, in denen die Lehrkräfte eher isoliert arbeiten.

In die Fähigkeiten der SchülerInnen vertrauen

Schulen, die ihre WiederholerInnenquote senken wollen, investieren mit vielfältigen Ansätzen in ihre Förderkultur – zum Beispiel, indem sie Förderbänder implementieren. Das sind Unterrichtsstunden, die im Stundenplan von Klassen gleicher oder unterschiedlicher Jahrgänge zeitgleich geschaltet sind, sodass klassen- oder jahrgangsübergreifend Arbeitsgruppen gebildet werden können. So können SchülerInnen unterschiedlicher Klassen mit ähnlichen Bedürfnissen gemeinsam ein Thema oder Lernfeld bearbeiten, ohne dass insgesamt der Klassenverband aufgelöst wird. Dazu gehört auch, dass leistungsstarke SchülerInnen unterer Jahrgangsstufen mit leistungsschwachen SchülerInnen höherer Jahrgangsstufen zusammenarbeiten.
Eine Förderkultur verwirklicht sich schließlich im Unterricht. Um Klassenwiederholungen zu vermeiden, muss es hier unter anderem darum gehen, leistungsschwache SchülerInnen nicht zu unterschätzen. Das Vertrauen in ihre Fähigkeiten stellt eine wichtige Voraussetzung individueller Förderung dar. Schließlich kann diese immer nur an dem vorhandenen Vorwissen und den Fähigkeiten ansetzen, nicht aber an fehlenden Kompetenzen. Eine geringe Leis-tungserwartung wirkt lernhinderlich, eine hohe Leistungserwartung von Lehrenden gegenüber ihren SchülerInnen hingegen kann lern- und leistungsförderlich sein. Eine Unterschätzung der Leistungsfähigkeit von Lernenden führt zudem häufig dazu, dass diesen die Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Aufgaben – die auch auf geringem Schwierigkeitsgrad möglich sind – versagt bleibt. Anspruchsvolle Aufgaben, die sich unter anderem durch die funktionale Anwendung von Wissen auszeichnen, haben eine lernförderliche Wirkung und sollten daher viel häufiger im Unterricht eingesetzt werden. Eine Investition in die Förderkultur stellen auch alternative Formen der Leistungsbewertung – zum Beispiel Lerntagebücher oder Portfolios – dar. Mithilfe dieser Instrumente können auch kleine Besserungen wahrgenommen und geschätzt werden.
Die mittlerweile vergleichsweise niedrigen Wiederholungsquoten in NRW lassen vermuten, dass die individuelle Förderkultur an den Schulen zugenommen hat. Für Schulen, die diesen Weg noch nicht weit genug mitgegangen sind, sollte dies einen Ansporn darstellen.

Prof. Dr. Gabriele Bellenberg
Professorin für Schulforschung und Schulpädagogik; Prodekanin der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. Christian Reintjes
Professor für Professionsforschung und Professionalisierungsmanagement an der Fachhochschule Nordwestschweiz

Prof. Dr. Grit im Brahm
Professorin für Unterrichtsentwicklung und Empirische Bildungsforschung an der Ruhr-Universität Bochum

Fotos (v. o. n. u.): suze / fotocase.de, krockenmitte / photocase.de, maja1122331 / Fotolia.com

0 Comments
Kommentieren
Die mit (*) gekennzeichneten Felder sind Pflichtfelder.

Kommentare (0)

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Lassen Sie es uns wissen. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!
24
Ihre Meinung? Jetzt kommentieren