Wirtschaft als Schulfach?

Sozialwissenschaftliche Disziplinen gehören zusammen

Soll „Wirtschaft“ ein neues Schulfach werden? Wenn es nach der NRW-Landesregierung geht, ja. Betrachtet man allerdings den Anteil ökonomischer Bildung im Unterricht, ist der Bereich schon jetzt – ohne ein zusätzliches Fach – überrepräsentiert. Politik und Gesellschaft kommen dagegen viel zu kurz, stellen die Bildungsforscher Prof. Dr. Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak in ihrer aktuellen Untersuchung fest.

nds: Die Landesregierung plant, „Wirtschaft“ als neues Schulfach einzuführen. Warum ist das aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll?

Reinhold Hedtke: Jahrelang haben Wirtschaftsverbände, Kammern, unternehmensnahe Stiftungen und Wirtschaftsredaktionen die Forderung nach einem separaten Schulfach „Wirtschaft“ wiederholt. Aber niemand hat geprüft, wie viel Lernzeit tatsächlich für ökonomische Bildung vorgesehen ist. Wir haben das mit zwei empirischen Studien für die Sekundarstufe I in NRW nachgeholt.
Mahir Gökbudak: Die Daten belegen: Vor allem an Gesamtschulen, aber auch an Gymnasien sind wirtschaftliche Inhalte in den Lehrplänen bereits heute besser vertreten als politische oder gesellschaftliche. Nimmt man das obligatorische wirtschaftliche Lernen für die Berufsorientierung außerhalb des Unterrichts hinzu, hat der Inhaltsbereich Wirtschaft sogar ein starkes Übergewicht. Angesichts knapper Lernzeit und vieler neuer Bildungsaufgaben spricht nichts dafür, das Wirtschaftslernen noch weiter auszubauen. Wer die Demokratie und den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken will, sollte vielmehr die politische und die gesellschaftliche Bildung besser fördern.
Wie die meisten Expert*innen findet es auch das NRW-Schulministerium wichtig, Wirtschaft und Politik im Zusammenhang zu behandeln. Aber das will es ausgerechnet dadurch erreichen, dass es Ökonomiethemen aus dem bisherigen Fach „Politik“ beziehungsweise „Politik und Wirtschaft“ herausnimmt und in ein neues Fach verschiebt. Tatsächlich wird eine sinnvolle politisch-ökonomische Bildung durch die Aufspaltung des integrativen Fachs massiv erschwert.
Reinhold Hedtke: Das Fehlen von empirischer Evidenz für die Einrichtung eines Separatfachs „Wirtschaft“ räumt auch das Schulministerium ein. In einem Interview mit dem Campusradio Hertz 87.9 begründet der zuständige Staatssekretär das neue Fach vor allem damit, dass viele Unternehmer*innen sowie Ausbilder*innen dem Ministerium Hinweise geben, dass die Schule beim Wirtschaftswissen nacharbeiten müsse.

Welchen Anteil nehmen ökonomische Inhalte denn im Vergleich zu politischen und gesellschaftlichen im Unterricht ein?

Reinhold Hedtke: Zunächst einmal muss man wissen, dass der Anteil der Wirtschaftsthemen in den höheren Jahrgangsstufen zunimmt, das Gewicht politischer und gesellschaftlicher Themenbereiche sinkt also mit zunehmendem Alter. Wenn wir uns die Sekundarstufe I genauer anschauen, entfällt pro Schulwoche bis zu dreimal so viel Lernzeit auf die ökonomische Bildung wie auf die politische Bildung: 17 bis 20 Minuten für Politik, 41 bis 63 Minuten für Wirtschaft. Für ökonomische Themen stehen je nach Schulform zwischen 56 und 69 Prozent der Gesamtlernzeit des sozialwissenschaftlichen Lernbereichs – also Politik, Gesellschaft, Wirtschaft – zur Verfügung. Für Politik schwankt dieser Wert zwischen 20 und 28 Prozent.
Das durchschnittliche Zeitbudget für die vorgeschriebenen Maßnahmen zur Berufsorientierung ist deutlich größer als das für die Behandlung politischer Themen in der gesamten Sekundarstufe I. Mindestens dreieinhalb Wochen sind für die außerunterrichtliche und außerschulische ökonomische Bildung für alle Schüler*innen obligatorisch. Gesellschaftliche Themen haben dagegen laut Lehrplan nur marginale Bedeutung, ihr Lernzeitanteil im sozialwissenschaftlichen Lernbereich liegt zwischen 11 und 18 Prozent. Gemessen am Lernzeitanteil für Wirtschaftsthemen ist die Gesamtschule die Schulform mit der höchsten Wirtschaftsaffinität.
Mahir Gökbudak: Wir haben für unsere Studie aber nur Instrumente analysiert, mit denen Bildungspolitik gemacht wird: die amtlichen Stundentafeln, die Kernlehrpläne für die einschlägigen Schulfächer sowie ministerielle Erlasse, etwa zum Berufspraktikum. Über das, was Schulen freiwillig machen, liegen keine repräsentativen Daten vor. Wir messen also die bildungspolitischen Vorgaben, nach denen sich die Schulen und Lehrkräfte zu richten haben. Auf der Basis dieser Vorgaben berechnen wir die anteilige Lernzeit für die großen Inhaltsbereiche Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Unsere Daten zeigen, welche Bedeutung Gesetzgeber und Schulministerium den Wirtschaftsthemen tatsächlich zumessen und wie sie die Prioritäten hinsichtlich ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Bildung setzen.

Woran liegt es, dass wirtschaftliche Themen in den Lehrplänen so stark überrepräsentiert sind?

Reinhold Hedtke: Das Fach „Politik“ beziehungsweise „Politik und Wirtschaft“ besteht laut den curricularen Vorgaben für allgemein-bildende Schulen in NRW aus den drei Bereichen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Kernlehrpläne legen die Inhaltsfelder und Inhalte fest. Darin kommt Politik seltener vor als Wirtschaft. Die Bildungspolitik bewertet die Wichtigkeit der beiden Bereiche offensichtlich unterschiedlich.
Mahir Gökbudak: Zusätzlich zum Fachunterricht gibt es in NRW außerunterrichtliche Veranstaltungen, an denen gesetzlich verpflichtet alle Schüler*innen teilnehmen müssen. Unsere Erhebung erfasst für die sozialwissenschaftliche Domäne nicht nur die verbindlichen Vorgaben in Stundentafeln und Lehrplänen, sondern erstmals auch die außerunterrichtlichen Pflichtveranstaltungen. Beim außerschulischen Lernen hat die ökonomische Bildung ein Alleinstellungsmerkmal. Denn im Rahmen der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss (KAoA)“ sind die Schulen in NRW verpflichtet, vier außerschulische Maßnahmen zum ökonomischen Lernen durchzuführen: das Betriebspraktikum, die Berufsfelderkundung, die Potenzialanalyse sowie die Berufsorientierung bei der Bundesagentur für Arbeit. Dafür stehen mindestens dreieinhalb Schulwochen zur Verfügung. Dagegen fehlen festgelegte außerunterrichtliche Lernformen bei der politischen, gesellschaftlichen oder historischen Bildung.

Welches Fach beziehungsweise welche Inhalte würden Sie der Landesregierung anstelle eines neuen Wirtschaftsfachs empfehlen, damit keiner der genannten Themenbereiche zu kurz kommt und Schüler*innen möglichst umfassend und ausgewogen ausgebildet werden?

Reinhold Hedtke: Bildung in der sozialwissenschaftlichen Domäne bezieht sich auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Gesellschaftliche, ökonomische und politische Bildung sind am besten in einem gemeinsamen Fach aufgehoben, so kann man die Zusammenhänge besser lehren und lernen. Wir empfehlen dringend, die große Ähnlichkeit der schulformspezifischen Lehrpläne für diesen Bereich auch in einer einheitlichen Fachbezeichnung an allen Schulformen abzubilden. Dafür schlagen wir für die Sekundarstufen I und II den Namen „Sozialwissenschaften“ vor, weil dies dem Fach Kontinuität über die gesamte Schullaufbahn der Lernenden hinweg verleiht und den Bildungsanspruch der Domäne endlich auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften definiert. Wir raten auch, über den Ausbau der Subdomäne „Recht“ im Rahmen von Sozialwissenschaften nachzudenken, ohne die anderen drei Teilbereiche zu beschränken.


Die Fragen stellte Jessica Küppers.

Illustrationen: Bogyofunk, Crocolot / shutterstock.com; Foto: iStock.com / skynesher

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