Schulstrukturentwicklung: Welche Zukunft haben Sekundarschulen?

Landtag diskutiert Schulstruktur

Die Mehrheit der Fraktionen im Schulausschuss des Landtags NRW hat Ende 2017 einem Antrag von CDU und FDP zugestimmt: „Zweizügige Fortführung von Sekundarschulen ermöglichen – Eltern, Lehrern und Gemeinden im ländlichen Raum Planungssicherheit geben“. Es besteht die Gefahr, dass die Landespolitik
zu kurz springt bei der Neujustierung der Schulstruktur.

Die Sekundarschule ist Resultat des Schulkonsenses aus dem Jahr 2011. CDU, SPD und GRÜNE einigten sich damals auf die Einführung einer neuen Schulform und glaubten eine Lösung gefunden zu haben, wie bei weiter zurückgehenden Schüler*innenzahlen ein leistungsfähiges und ortsnahes Schulangebot aufrechterhalten werden kann.

Kooperative Form der Sekundarschule nicht akzeptiert

Die Einführung der Sekundarschule wurde begleitet von einer Änderung der Landesverfassung. Nach Streichung der sogenannten Hauptschulgarantie steht dort nun in Artikel 10, dass das Land „ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen (gewährleistet), das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen ermöglicht“.
Betrachtet man heute den Entwicklungsstand der neuen Schulform Sekundarschule, ist zunächst spannend, welche Akzeptanz die unterschiedlichen Modelle der Sekundarschule gefunden haben. Schnell wird klar, dass sie eher als kleine Schwester der Gesamtschule gewünscht wird beziehungsweise systemisch betrachtet neben der Gesamtschule als gleichfalls integrierte Schulform steht.
Die kooperative Form der Sekundarschule findet sich praktisch nicht, favorisiert wurden im Schuljahr 2016 / 2017 die integrierte Form mit 20,5 Prozent und mit 78,5 Prozent die teilintegrierte Variante, die im Wesentlichen dem Modell der Gesamtschule entspricht. Zeitweise gab es landesweit keine öffentliche Sekundarschule mit kooperativer Organisationsform mehr.

Sekundarschulen teilweise gefährdet

Im Schuljahr 2016 / 2017 wurden 79 Prozent der Sekundarschulen drei- oder vierzügig geführt. Dennoch
ist nicht zu übersehen, dass einige der aktuell 113 Sekundarschulen bei derzeitiger Rechtslage im Bestand gefährdet sind und mangelnde Nachfrage Sekundarschulgründungen verhindert hat. Es bleiben Zweifel daran, ob das Hauptziel des Schulkonsenses – ein ortsnahes Angebot einer weiterführenden Schule landesweit zu gewährleisten – dauerhaft erreicht werden kann.
Im Dezember 2017 hat die Landesregierung dargelegt, dass 15 Sekundarschulen zum Schuljahr 2017 / 2018 die Anmeldezahlen für eine Dreizügigkeit nicht erreicht haben. Es sind deutlich überwiegend Sekundarschulen im ländlichen Raum: Alpen, Altena / Nachrodt-Wiblingwerde, Borchen, Eitorf, Engelskirchen, Halver, Herten, Möhnesee, Neuss, Reken, Rosendahl/Legden, Velen, Wetter, Wickede und Willebadessen.
Vor diesem Hintergrund scheint zunächst schlüssig, dass die Fraktionen im Landtag argumentieren, dass Sekundarschulen die rechtliche Gewissheit erhalten sollen, auch über einen längeren Zeitraum zweizügig fortgeführt werden zu können. So sollen insbesondere letzte Schulangebote der Sekundarstufe I im ländlichen Raum gesichert werden. Mit Blick auf eine Weiterentwicklung der Sekundarschule wollen CDU und FDP jedoch auch qualitative Aspekte der jeweiligen Ausgestaltung berücksichtigen.
Schwer verständlich ist daher, dass SPD und GRÜNE zugestimmt haben, die Landesregierung möge prüfen, ob und wie gymnasiale Standards in der Sekundarschule umgesetzt werden. Nimmt man hinzu, dass CDU und FDP in der Vergangenheit gefordert haben, dass die Schulaufsicht die Schulträger stärker auf die nicht nachgefragte kooperative Form der Sekundarschule verweisen solle, so scheint die Verbundschule Blaupause der Koalition zu sein.
Würde sich die Politik darauf beschränken, allein die Zügigkeit von Sekundarschulen in den Blick zu nehmen und die Rechtslage zu ändern, wäre vielleicht etwas Zeit gewonnen und eine qualitative Neujustierung der Sekundarschule zu deren Lasten vermieden. Eine zukunftsfähige Weiterentwicklung des Schulsystems erfordert es jedoch, den Rahmen weiter zu spannen.

Landesregierung muss aktiv werden

Aus Sicht der GEW NRW ist die Landespolitik gefragt, mehr Verantwortung für das Schulangebot vor Ort zu übernehmen. Hierbei darf – im Großen – die (langfristige) Reduzierung der Anzahl der Schulformen kein Tabu sein. Der Schulkonsens sichert den Status quo bis zum Jahr 2023. Diese Zeitspanne ist deutlich zu lang, die Politik muss vorher tätig werden und neu justieren. Zudem muss – im Kleinen – Verantwortung übernommen werden, wenn Teilstandorte unvermeidlich sind. Dass dann deutlich mehr Ressourcen erforderlich sind, sollte endlich akzeptiert und finanziert werden.
Wenn über die Neujustierung gestritten wird, muss mit in den Blick genommen werden, dass das Schulsystem Bedingungsgröße für soziale Segregation ist. Dazu schreibt Dietrich Scholle, langjährig als Schulaufsichtsbeamter im Bezirk Münster tätig, in „Integrierte Schule Aktuell“: „Ausgehend von den Erfahrungen mit dem dreigliedrigen Schulsystem ist festzustellen: Je zersplitterter (vielfältiger) ein Gesamtsystem organisiert ist,

  • desto stärker bildet sich eine Hierarchie zwischen den Schulformen heraus,
  • desto stärkere Effekte der sozialen Segregation und Selektion werden erzeugt,
  • desto größer ist die Restschulproblematik und
  • desto weniger leistungsfähig ist das Gesamtsystem.“

Breite Diskussion erforderlich

Ermuntert durch die „Politik der Ermöglichung“ der rot-grünen Landesregierung nach 2011 halten die Schulträger*innen in NRW eine Vielzahl von Systemvarianten vor. Eine Gemeinsamkeit jedoch ist feststellbar. Eine derzeitige Hauptaufgabe kommunaler Schulentwicklung ist die Definition „auslaufender Schulen“. Landesweit sind aktuell fast 500 Schulen auslaufend gestellt, davon mehr als 300 der noch existierenden Hauptschulen und etwa 170 Realschulen. Welche Perspektiven zeigt die Politik hier auf? Wie kann der Prozess gestaltet werden, damit sich die Belastungen für Lernende und Lehrende in Grenzen halten? Müssen Gründungsbedingungen für Sekundarschulen geändert werden, um Brüche zu vermeiden? Was stärkt integrierte Schulen und welche Gelingensbedingungen benötigen sie? Welche Wege zum Abitur ohne Schulformwechsel sind landesweit möglich?
Wer die Sekundarschulentwicklung sowie das Agieren von Schulträgern betrachtet, kann das Thema Privatschulen nicht aussparen. Hier sind – aus der Not geboren und nicht selten der mangelnden interkommunalen Kooperation geschuldet – Fehlentwicklungen offenbar, die dringend korrigiert werden müssen. Die Debatte und die Beschlussfassung zum breit unterstützten Antrag zur Zweizügigkeit von Sekundarschulen sind also hoffentlich der Beginn einer breiten Diskussion über die Neujustierung des Schulkonsenses. Die GEW NRW wird sich daran engagiert beteiligen.

Michael Schulte
Geschäftsführer der GEW NRW

Illustrationen: VanReeel / shutterstock.com, ibrandify / Freepik; Foto: Kamerakind / photocase.de

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