Inklusion: Lern- und Freiräume zum Wachsen

Klassenräume inklusiv gestalten

Um inklusive Lernräume zu schaffen, sind nicht nur veränderte Haltungen, Prozesse, Unterstützungssysteme und Unterrichtsmethoden nötig, sondern auch die physische Veränderung der Unterrichtsräume. Arbeits-, Präsentations-, Verkehrs- und Freiflächen – der gesamte Schulraum muss so verändert werden, dass er den Bedürfnissen aller Schüler*innen ebenso Rechnung trägt wie denen der Lehrenden.

Inklusive Lernumgebungen geben allen Schüler*innen das Gefühl, dass ihre Beiträge und Perspektiven, ihre Stärken und Schwächen respektiert und ihre individuellen Potenziale gewürdigt werden. Kurzum: Es sind Lern- und Freiräume zum Wachsen. Nach der Verabschiedung des Inklusionsgesetzes in NRW im Jahr 2012 schienen Rahmenbedingungen, Schulorganisation und Unterricht weit entfernt von den Anforderungen, die an inklusive allgemeinbildende Einrichtungen gestellt werden. Fünf Jahre später lassen sich vielerorts Veränderungen im Unterrichtsprozess beobachten.

Räume für inklusiven Unterricht und multiprofessionelle Teams schaffen

Lehrkräfte wechseln Methoden und Sozialformen innerhalb einer Unterrichtseinheit häufiger. Schritt für Schritt adaptieren sie ihren  Unterricht, sodass verschiedene Lernniveaus und Kompetenzlevel angesprochen werden. Die Phasen des Frontalunterrichts in den nun schneller getakteten Unterrichtseinheiten werden kürzer. Unterrichtskonzepte wie Kooperatives Lernen, Projektarbeit an fächerübergreifenden Themen, Wochenplanarbeit und Stationenlernen fördern die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen. Angepasste Methodik und gut integrierte Wechsel in den Sozialformen lenken den Unterricht, gestalten ihn abwechslungsreich, verhindern Langeweile und Störungen. Zugleich nimmt diese veränderte Unterrichtsführung Rücksicht auf die Heterogenität der Schüler*innen. Damit der Wechsel zwischen verschiedenen Unterrichtsformen ohne großen Zeitverlust funktioniert, muss die Raumgestaltung mitspielen: Tische müssen zum Beispiel flexibel sein, damit sie innerhalb einer Minute von der ganzen Klasse in die gewünschte und unterstützende Raumordnung gebracht werden können.
Gleichzeitig gewinnt Teamteaching in multiprofessionellen Teams zunehmend an Bedeutung: Der Unterricht wird temporär von einem Tandem so geplant und ausgewertet, dass er möglichst viele Lernniveaus der Klasse abdeckt und für alle Beteiligten kontaktintensiver und vielfältiger ist. Unterricht im Tandem kann unterschiedlich gestaltet sein: Beispielsweise unterrichtet eine Lehrkraft, während die andere parallel einzelne Schüler*innen unterstützt, oder zwei Gruppen werden gleichzeitig im selben Raum auf verschiedenen Niveaus unterrichtet. Zusätzlich zur Arbeit der Lehrer*innen, Sonderpädagog*innen und Psycholog*innen werden in vielen Klassen einzelne Schüler*innen während des Unterrichts durch Schulbegleiter*innen oder Integrationshelfer*innen betreut und unterstützt. All diese Angebote brauchen Raum, der den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht wird. Auch hier sind flexible Raumausstattungen wichtig, etwa um Sichtschutz zu gewähren, die Lautstärke von Nachbargesprächen zu reduzieren oder Präsentationen zu erproben. Lernbereiche werden erweitert und Verkehrsflächen mitgenutzt: Zum Beispiel verlassen die Pädagog*innen mit einzelnen Lernenden oder einer kleinen Gruppe temporär den Klassenraum und verlagern deren Arbeitsbereich in den Flur.  
Im selben Maße wie inklusive Lehr- und Lernmethoden Einzug in den Unterricht halten, müssen also die Unterrichtsräume weiterentwickelt werden. Oft unterstützen schon einfache Maßnahmen dabei, Inklusion im Klassenraum nachhaltig zu verankern. So wird der Raum zum „dritten Pädagogen“.

Plenum

Sorgen Sie dafür, dass es einen Versammlungsort gibt, an dem alle Schüler*innen zusammenkommen können, um als Großgruppe zu diskutieren, soziale Fähigkeiten zu entwickeln und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. In zu engen Klassenräumen mit vielen Schüler*innen kann das auch ein Stuhlkreis sein, der um eine Tischgruppe herumgeführt ist (Abbildung 1). Wenn die Raumgröße es erlaubt, lassen sich auch ein paar einfache Bänke in einer Ecke schnell zusammenstellen. Wichtig ist, dass alle einen gleichwertigen Platz auf Augenhöhe finden und jede*r jede*n sehen und hören kann.

Gruppentische

Stellen Sie die Tische in Zweier-, Vierer- oder maximal Sechsergruppen, sodass alle Schüler*innen die Gelegenheit zur Partner- oder Gruppenarbeit haben, ohne umzuräumen:  Dies ist der Arbeitsplatz für Einigungs- oder Austauschprozesse, kooperative Lernformen und gegenseitige Unterstützung (Abbildung 2).
Damit die Schüler*innen zugleich einen möglichst freien Blick auf eine Präsentations- oder Organisationsfläche haben, werden die Tischachsen auf diesen Punkt hin ausgerichtet. Hier ist der Arbeitsraum für die Lehrkraft oder präsentierende Lerner*innen. Der Raum muss frei bleiben, damit Bewegung möglich ist. Platzieren Sie den Lehrer*innentisch am Rand des Klassenzimmers, so erhalten Sie mehr Freiraum in den meist rechteckigen Klassenzimmern. Das Pult steht nicht im Weg und bildet weder eine Sicht- noch eine Kontaktsperre. Lernende, die direkten Sichtkontakt zur Lehrkraft brauchen, sind in diesem Setting natürlich besser an den vorderen Tischen aufgehoben. Lernende, die sich leicht ablenken lassen, dürfen sich gerne am Rand des Raumes platzieren, denn sie haben mit der Wand im Rücken weniger Kontaktmöglichkeiten.

Wandgestaltung

Die Wände in inklusiven Klassenzimmern sollten so gestaltet sein, dass sie keine unnötigen Ablenkungen verursachen oder zu Reizüberflutungen führen. Zu viele fröhliche Farben, Poster, Lehrtafeln und übervolle Regale werden auch Ihre konzentriertesten Schüler*innen ablenken. Freiraum schafft hingegen eine Arbeitsatmosphäre und ruft zu Füllung auf. Leere Flächen geben Raum für eigene Gedanken. Abgearbeitete Unterrichtsmaterialien, die nicht zur Prozessdokumentation genutzt werden, haben ein Verfallsdatum, an dem sie entsorgt werden. Warn- und Signalfarben wie Gelb, Orange und Rot sind sparsam und gezielt einzusetzen, zum Beispiel als Hintergrund für regelmäßige Ankündigungen wie Hausaufgaben. Geben Sie bestimmten Orten feste Funktionen: Wiederkehrende Informationen sollten an der Klassenraumwand einen fest definierten Raum haben. Dies erhöht die Übersicht und gibt Sicherheit: Alle wissen so immer, wann die nächste Klassenarbeit oder die nächsten Ferien anstehen. Schmutzige, ungepflegte Wände zeugen von Vernachlässigung und wenig Wertschätzung. Hat der Prozess der Verschmutzung einmal eingesetzt, wird er sich weiter beschleunigen.

Lehr- und Lernmaterialien

Wenn die Materialsammlung in Ihrem Klassenzimmer der individuellen Förderung dient, enthält sie Angebote für alle Lernniveaus und Lerntypen. Alle Materialien haben ihren festen Platz und eine miteinander vereinbarte Ordnung. Sie müssen für alle Schüler*innen frei zugänglich und gut erreichbar sein – auch für die kleineren und für Schüler*innen im Rollstuhl. Gute Lösungen zu finden, die auch der Brandschutzverordnung entsprechen, ist eine echte Herausforderung. Portable Schrankeinheiten sind zum Beispiel eine Lösung. Keine Lösung ist es hingegen für die Lehrkraft, die für jede Unterrichtseinheit einen anderen Schrankkoffer mit sich führt.

Sicherheit

Ganz besonders ist darauf zu achten, dass sich alle jederzeit sicher und frei bewegen können, nicht nur im Unterricht, sondern auch im Notfall. Schultaschen müssen an einem fest vereinbarten Ort abgestellt werden, damit sie nicht zu Stolperfallen werden. Befreien Sie Ihren Klassenraum von überzähligen Tischen, Mobiliar und Materialien, die nicht benötigt werden. Defektes Mobiliar muss entfernt werden, denn es birgt nicht nur Gefährdungspotenzial, sondern dokumentiert zugleich geringe Wertschätzung.Nicht nur für geflüchtete Schüler*innen könnte es zudem wichtig sein, dass der Klassenraum auch psychologisch Geborgenheit vermittelt.

Ordnung

Ermutigen Sie Ihre Schüler*innen, Wertschätzung und Verantwortung für ihre Lernumgebung zu zeigen. Wöchentlich wechselnde Klassendienste, die die gemeinsam vereinbarte Ordnung und Sauberkeit erhalten, können zum Beispiel durch Ämterkarten erleichtert werden.

Besondere Bedürfnisse

Fragen Sie Ihre Schüler*innen mit herausforderndem Verhalten, welche räumliche Umgebung sie brauchen, um konzentriert arbeiten zu können. Sorgen Sie für die räumliche Umsetzung, auch wenn sie ungewöhnlich erscheint. Experimentieren Sie gemeinsam mit Ihren Schüler*innen: Vielleicht ist ein Einzeltisch, abgeschirmt nach links und rechts oder mit Blick auf die Wand, genau das richtige Arrangement, damit weniger Störungen auftreten.
Genauso wichtig wie die Bedürfnisse der Lernenden sind die räumlichen Ansprüche der Lehrenden, um gut unterrichten zu können. Beobachten Sie, wie Sie sich im Unterricht bewegen: Sitzen Sie überwiegend auf der Kante des Pultes? Sind Sie unablässig in der Klasse unterwegs oder sitzen Sie meistens auf Ihrem Stuhl? Analysieren Sie ihr Bewegungsprofil und sorgen Sie gut für sich, indem Sie auch Ihren Arbeitsplatz optimal gestalten.  

Gewinn für Lernende und Lehrende

Um alle Schüler*innen in ihren individuellen Lernwegen zu bestärken und dabei besondere Lernbedürfnisse im Blick zu haben, sind inklusive Unterrichtsformen, stringentes Classroom Management und ein wertschätzendes Klassenklima die entscheidenden Komponenten. Sie sorgen auch für die Entwicklung von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Selbstwert. Die sorgsame Planung des Klassenraums – also die Anordnung der Tische, Schränke, Regale und Poster – ist jedoch ebenso wichtig. Der ihn umgebende Raum beeinflusst den Menschen immer in all seinen Aktivitäten – auch im Klassenzimmer. Die Raumgestaltung kann den Inklusionsprozess entsprechend behindern oder unterstützen. Flexible, pädagogisch fundierte Einrichtungen sind nicht nur für Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf, sondern für alle Lernenden und Lehrenden ein Gewinn.

Dr. Petra Regina Moog
Leitung der SOPHIA::Akademie Düsseldorf, Schulentwicklungsbegleiterin und Schulbauberaterin, Dozentin für Begabungsförderung am CCB Düsseldorf

Marayle Küpper
Lehrerin für Gestaltungstechnik und Deutsch, Fachleiterin Gestaltungstechnik am ZfsL Düsseldorf, Moderatorin für Kooperatives Lernen am Green-Institut Rhein-Ruhr

Foto: view7 / photocase.de

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