(Bildungs-)Reichtum umverteilen

Bochumer Memorandum 2011 bis 2017: Armut und Schulbildung

Soziale Benachteiligung wirkt sich negativ auf die Bildungsbeteiligung aus: So finden beispielsweise Kinder aus einkommensschwachen Familien schlechter Zugang zu Bildung. Das Bochumer Memorandum forderte schon 2011 die Abschwächung dieses Zusammenhangs, doch bis zur Zwischenbilanz in 2015 hatte sich die Situation nicht verändert. Was bei der Suche nach den Ursachen häufig unberücksichtigt bleibt: Bezugspunkt für fehlende Bildungschancen ist nicht allein Armut, sondern die stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

(Bildungs-)Reichtum umverteilen

Um die Lebenssituation sozial benachteiligter SchülerInnen zu kennzeichnen, wird häufig der zur Jahrtausendwende von Jutta Allmendinger in die Fachdebatte eingeführte Begriff „Bildungsarmut“ verwendet. Tatsächlich schlägt sich Armut nicht bloß als chronisches Minus auf dem Bankkonto oder als gähnende Leere im Portemonnaie nieder, sondern führt auch zu vielfältigen Benachteiligungen, gerade im Hinblick auf die Schulbildung der Betroffenen. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, Armut erschöpfe sich in Bildungsdefiziten oder basiere primär darauf. Vielmehr ist das Verhältnis von Armut und Schulbildung erheblich komplizierter als es zunächst scheint und der Begriff „Bildungsarmut“ missverständlich, wenn nicht irreführend. Durch eine Blickverengung auf (gescheiterte) Bildungsbiografien sozial Benachteiligter wird nämlich von den eigentlichen Wurzeln der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich abgelenkt sowie eine Pädagogisierung, Subjektivierung beziehungsweise Psychologisierung dieses Kardinalproblems der Gesellschaftsentwicklung betrieben, dessen erfolgreiche Lösung nur mittels einer Umverteilung der materiellen Ressourcen von oben nach unten erfolgen kann.
WissenschaftlerInnen, verantwortliche PolitikerInnen oder PublizistInnen, die den privaten Reichtum nicht antasten wollen, können die Armut in unserem reichen Land nicht verringern, verweisen aber gern auf die überragende Rolle der Bildung, ohne dafür mehr Geld bereitzustellen. So wird Erwachsenen im Hartz-Regelbedarf 1,54 Euro pro Monat für Bildung gewährt, Kindern je nach Alter 0,32 Euro, 1,30 Euro oder 1,61 Euro. Symptomatisch war auch das jüngste Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit dem Titel „Zeit für Reformen“, welches statt einer Wiedererhebung der Vermögensteuer die Einführung eines verpflichtenden Vorschuljahres empfiehlt – Bildung ja, Umverteilung nein. Letztere ist aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, wenn man Schulen besser ausstatten und Kinder umfassender bilden will.

Bildungsdefizite – Hauptursache von Kinderarmut?

Der Begriff „Bildungsarmut“ leistet dem Irrglauben Vorschub, eine gute Schulbildung garantiere einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf liberalisierten Arbeitsmärkten sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Armut in der Herkunftsfamilie zieht oftmals Bildungsdefizite der davon betroffenen Kinder nach sich. Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum signifikant: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt. Armut macht zwar auf die Dauer dumm, Dummheit deshalb jedoch noch lange nicht arm.
Armut und Bildung stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, aber nicht in dem Sinne, dass Bildungsdefizite der Eltern die Kinderarmut herbeigeführt hätten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zwar zu den größten BildungsverliererInnen, ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn Letztere sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt und Berufskarrieren heute immer stärker an Kompetenzen gebunden sind, die man an (Hoch-)Schulen erwirbt.
Wenn man so tut, als führten ausschließlich oder hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, fällt ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) die Verantwortung dafür zu, während ihre gesellschaftlich bedingten Handlungsrestriktionen und die politischen Strukturzusammenhänge aus dem Blick geraten. Bildungsbeteiligung für die einen und Bildungsbenachteiligung für die anderen Kinder ergeben sich aus der Tendenz zur sozialen Polarisierung, die wiederum eine Folge der Globalisierung beziehungsweise der neoliberalen Modernisierung darstellt.
So wenig ein ökonomistisch verkürzter Armutsbegriff das Phänomen in seiner ganzen Komplexität erfasst, so wenig Sinn macht ein kulturalistisch verkürzter Armutsbegriff. Ohne die Berücksichtigung der Schlüsselrolle materieller Güter für die Existenz, das Ansehen und die Wertschätzung eines Menschen im Gegenwartskapitalismus kann das Problem nicht verstanden werden. Geradezu paradox erscheint, dass die überragende Bedeutung des Geldes sowie seiner halbwegs gleichmäßigen und gerechten Verteilung auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ausgerechnet zu einer Zeit immer häufiger angezweifelt wird, in der es aufgrund einer fortschreitenden Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung in fast allen Gesellschaftsbereichen ständig an Relevanz für die Versorgung und den Status von Individuen gewinnt.

„Bildung für alle“ statt Umverteilung des Reichtums?

Was unter günstigen Umständen fraglos zum individuellen beruflichen Aufstieg taugt, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Jugendlichen – nicht bloß jene mit Migrationshintergrund – mehr Bildungsmöglichkeiten bekämen, was sicherlich wünschenswert wäre, würden sie um die wenigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau, aber nicht mit größeren Chancen konkurrieren. Eine bessere (Aus-)Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne die Erwerbslosigkeit und die (Kinder-)Armut zu beseitigen.
Zwar kann ein Individuum durch die Beteiligung an Bildungsprozessen einer prekären Lebenslage entkommen, eine gesamtgesellschaftliche Lösung bietet sie allein freilich nicht. Ohne eine spürbare Verbesserung der Bildungseinrichtungen und der Bildungschancen für alle (Wohn-)BürgerInnen und ihre Kinder ist die Armut nicht erfolgreich zu bekämpfen. Aber nur mittels eines Ausbaus im Bildungsbereich lässt sich das Problem ebenso wenig lösen. Vielmehr bedarf es darüber hinaus neben einer Vielzahl anderer Maßnahmen, um die soziale Infrastruktur zu verbessern, der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Schließlich kann die Pädagogik weder eine gerechte Steuerpolitik noch eine die Armut konsequent bekämpfende Sozialpolitik ersetzen.
Es ist heuchlerisch und purer Zynismus, den Armen „Bildet euch! Bildet euch! Bildet euch!“ zu predigen, ihnen jedoch die dafür notwendigen materiellen Ressourcen vorzuenthalten. PolitikerInnen, die in Sonntagsreden eine bessere Bildung für alle versprechen, erhöhen im Alltag durch Förderung der Privatschulen, Beschneidung der Lernmittelfreiheit und (Wieder-)Einführung von Studiengebühren die Bildungsbarrieren für Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Bildung als Wunderwaffe gegen Armut?

Bildungsbeteiligung ist kein Garant für eine gesicherte materielle Existenz. Andernfalls hätten nicht elf Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor einen Hochschulabschluss. So wichtig Bildungs- und Kulturangebote für Kinder sind, so wenig taugen sie als Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut. Zwar werden die Armen häufig dumm (gemacht), die Klugen aber deshalb nicht automatisch reich. Bildung ist daher auch nur ein begrenzt taugliches Mittel gegen (Kinder-)Armut, denn sie kann zwar durch soziale Diskriminierung entstandene Partizipationsdefizite junger Menschen mildern, allerdings nicht verhindern, dass materielle Ungleichgewichte auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen durchschlagen.
Da die „Bildungsferne“ armer Familien eine Folge gravierender materieller Defizite ist, die teilweise über Generationen hinweg kumuliert wurden, lässt sich die Benachteiligung von Kindern nur verringern, wenn Schulbildung als integraler Bestandteil einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik verstanden wird und eine strukturelle Benachteiligung deprivierter Kinder unterbleibt. Inklusion sollte nicht bloß als sonderpädagogisches, vielmehr auch als gesellschaftspolitisches Paradigma verstanden werden.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge
bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln

Fotos: suze, kemai / photocase.de

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