Meuterei im Klassenzimmer

Die Schüler*innen der 9b drücken sich die Nasen an der Fensterscheibe platt. Verdutzt schauen sie der Menschenmasse hinterher, die sich an ihrem Schulhof vorbei in Richtung Kölner Südstadt bewegt. Bunte Plakate mit der Aufschrift „Bildung für alle ist keine Zauberei“ oder „Reiche Eltern für alle – gegen Selektion im Bildungssystem“ und eingehende Sprechchöre lassen keinen Zweifel an der Vehemenz der hier vorgetragenen Bildungskritik.

Demokratie zulassen statt nur lehren

Auch wenn vielen Fenstervoyeur*innen die große Sympathie und Solidarisierung anzumerken ist, schließen sie sich nicht der Demonstration an. Sie dürfen nicht. Die Schulleitungen etlicher Kölner Schulen haben ihren Schüler*innen die Teilnahme an den bundesweiten Demonstrationen verboten, entscheidende Unterrichtsstunden könnten versäumt werden. Politikstunden zum Beispiel, in denen gelehrt wird, wie wichtig es ist, sich politisch zu engagieren, sich mit dem Ist-Zustand nicht zufrieden zu geben. Dabei wäre es doch nur konsequent, den Schüler*innen auch den Freiraum zu gewähren, dieses Lernziel in die Praxis umzusetzen. Offenbar gilt die berühmte und in vielen Lehrplänen gehuldigte Urteilskompetenz nur dann als tatsächlich erstrebenswert, wenn sie die Institution Schule als Urteilsgegenstand unangetastet lässt. Doch genau hier setzt die Kritik vieler Schüler*innen an!
Ganz im Gegenteil zur immer wiederholten Behauptung, „die Jugendlichen von heute” seien unpolitisch, ist deren Kritik nämlich oft radikaler als vielen lieb ist. Tag für Tag üben Schüler*innen in den Klassenzimmern bildungspolitische Kritik – sie wird oft nur nicht als solche wahrgenommen, bewusst ignoriert oder, schlimmer noch, als destruktive „bildungsfeindliche“ Einzelmeinung abgetan. Sei es die Beschwerde über das unzumutbare Arbeitspensum während der Klausurphasen, eine willkürliche Notenvergabe oder die Angst vorm Sitzenbleiben – die Schüler*innen erkennen die Probleme unseres Bildungssystems genau. Ihnen fehlt nur oft der Raum, um diese Kritik so äußern zu können, dass sie mehr Gehör findet als nur das der Sitznachbarin.

Mitbestimmung auf Augenhöhe: Wir können was bewegen!

Das bundesweite Bündnis „Lernfabriken … meutern!“ will genau das ändern. In den Basisgruppen vor Ort tauschen Schüler*innen, Studierende, Lehrer*innen und Auszubildene konkrete Erfahrungen aus, analysieren Missstände und machen deren Ursachen innerhalb des Bildungssystems sichtbar. Auf den bundesweiten Vernetzungstreffen werden zum einen übergeordnete Ziele besprochen, zum Beispiel die Abschaffung von sozialen Selektionsmechanismen oder mehr Demokratie an Schulen. Zum anderen werden mittelfristige Forderungen aufgestellt – etwa die Abschaffung von Noten oder Erhöhung des prozentualen Stimmrechts der Schüler*innen in Schulgremien –, um den Druck auf die Politik zu erhöhen.
Entscheidend ist: Bei „Lernfabriken ... meutern!“ arbeiten alle auf Augenhöhe zusammen. Im basisdemokratischen Verfahren wird allen Stimmen, auch der der Schüler*innen, eine besondere Verantwortung zuteil. Indem die alltäglichen Erfahrungen der Schüler*innen in den Klassenzimmern sichtbar in konkrete politische Forderungen transformiert werden, wird deutlich: Wir können was bewegen! Flyer und Aufkleber, die die Schüler*innen selbst verfassen, geben dieses Gefühl in verständlicher Sprache und modernem Design weiter. Aktionsformen wie öffentliches Plakate-Malen im Park oder popcornlastige Filmabende machen ein niedrigschwelliges und adressatengerechtes Angebot, sich der Meuterei anzuschließen. Fotos und Livemitschnitte von Demonstrationen liefern Material für Mobilisierungsvideos, die mit eingängigen Beats und griffigen Slogans auf Facebook gepostet werden. Denn die Hoffnung bleibt: Vielleicht kommt die 9b ja zur nächsten Demo.


Katharina Koerfer
Lehrerin und Gründerin der Kölner Ortsgruppe von „Lernfabriken … meutern!“

Redaktionelle Mitarbeit durch Sarah Haenßgen, Schülerin

www.lernfabrikenmeutern.de



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Kommentare (1)

  • Ulrike Werner-Meier Super! Klingt ja wahnsinnig engagiert und schülerfreundlich! Mitbestimmung und Demokratie im Klassenzimmer.
    Konsequenterweise sollte man dann die Schüler ganz demokratisch abstimmen lassen, ob sie lernen wollen (sie wollen nicht) und was sie denn gerne machen möchten (mit dem Smartphone spielen). Und was die willkürliche Notengebung und den unerträglichen Klausurendruck betrifft: Jeder Schüler bekommt grundsätzlich in jedem Fach die Note „Eins“ und Klausuren werden abgeschafft. Dann hätten wir Lehrer auch sehr viel weniger Stress, eine Win-win-Situation sozusagen.
    Allerdings: Irgendwann ist die schöne Schulzeit vorbei, dann werden die Lebenschancen vergeben und keiner hat was gelernt.
    Für die mit den „richtigen“ Eltern ist das kein Problem, die werden schon versorgt. Und die anderen...egal!
    Gruß Ulrike
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