Bochumer Memorandum: Vielfalt und Migration

Bochumer Memorandum 2011 bis 2017: Migration und Bildungsbeteiligung

Das Gefälle in den Schulerfolgen entlang der Trennlinien zwischen sozialer Herkunft, Geschlecht und Migrationshintergrund zeigt, dass bislang die sozialen, politischen und pädagogischen Strategien im Umgang mit Vielfalt zu kurz greifen. Hier verfestigt sich auch nach dem Bochumer Memorandum von 2011 eine kontinuierliche Ungleichheit, die gegenwärtig durch alle Bildungseinrichtungen geht.

In Deutschland haben internationale Schulleistungsvergleiche – zum Beispiel PISA, IGLU oder  OECD – vielfach belegt, dass der Bildungs-erfolg und die Bildungsbeteiligung eng mit den Merkmalen der sozialen Herkunft korrelieren. Insbesondere MigrationsschülerInnen aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Lebenslagen besuchen demnach selbst bei gleichen schulischen Leistungen seltener anspruchsvolle Bildungsgänge als SchülerInnen ohne Migra-tionshintergrund.

Bildung als Schlüssel für soziale und berufliche Integration

Gerade der Bildungsbericht 2016 zeigt, dass ein Großteil der schulischen Leistungen hierzulande durch die soziale und „ethnische“ Herkunft erklärt werden. Dabei lassen sich die Auswirkungen anhand von drei Risikolagen darstellen, deren Folgen alle wichtigen Lebensbereich beeinflussen. Als erste Ursache zeigt sich ein bildungsfernes Elternhaus, in der beide Elternteile keine abgeschlossene Berufsausbildung besitzen. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es an Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Eltern mangelt und dies zu einer ungünstigen Entwicklung bei Kindern führt. Von einer sozialen Risikolage wird gesprochen, wenn kein Elternteil erwerbstätig ist, denn Erwerbstätigkeit gilt hier insbesondere als Zugang zu sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Ressourcen. Bei der finanziellen Risikolage liegt das Familieneinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze. Mit 29,1 Prozent – betroffen ist entsprechend fast jedes dritte Kind – ist in Deutschland ein großer Anteil mindestens einer dieser Risikolagen ausgesetzt.
Bei Familien mit Migrationshintergrund zeigen sich laut Bildungsbericht 2016 insbesondere Mehrfachrisikolagen, sodass 6,2 Prozent unter Einfluss aller drei Risikolagen leben. Vor allem Familien, die aufgrund ihrer finanziellen Situation in sozial benachteiligten Lebenslagen und segregierten Wohnorten leben müssen, sind von sozialer Ausgrenzung betroffen und können nur selten den Aufstieg schaffen, denn die Zugehörigkeit zu einer „unteren Schicht“ verfestigt zugleich die Perspektivlosigkeit. Hierzu zählen auch die dauerhafte Arbeitslosigkeit bei Eltern oder Familien und auch die Zunahme alleinerziehender Elternstrukturen. Kinderreiche Familien und Familien mit Migrationshintergrund haben häufig einen niedrigen sozialen Status und sind am häufigsten von Armut betroffen. So werden junge Migrationsbiografien aus unteren sozialen Schichten vierfach benachteiligt: einerseits durch ihre Herkunft und andererseits durch die teilweise ungerechte Selektion am Ende der Grundschule, durch ungünstige Lernbedingungen an Hauptschulen und nicht zuletzt durch Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt.
Dies zeigt sich beispielsweise im Vergleich der SchulabgängerInnen ohne Schulabschluss: Verlassen 13,4 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Schule ohne Schulabschluss, sind es bei gleichaltrigen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund nur 1,8 Prozent. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erwerben 39,5 Prozent der Migrationsjugendlichen keinen berufsqualifizierenden Abschluss, bei den gleichaltrigen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sind es dagegen nur 15,6 Prozent. Diese gravierenden Unterschiede wirken sich auch auf das Berufsleben aus: 8,4 Prozent der Erwachsenen mit Migrationshintergrund sind erwerbslos, bei den Personen ohne Migrationshintergrund sind es 4,5 Prozent. Nach diesen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeichnet sich ein erhöhtes Armutsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund ab.
Die nordrhein-westfälische Landespolitik hat vor allem in den letzten Jahren durch verschiedene Programme wie das Modellprojekt „Kein Kind zurücklassen“ oder die „Regionalen Bildungsnetzwerke“ Maßnahmen initiiert, um der Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken. Auch das 2011 eigenführte „Bildungs- und Teilhabepaket“ unterstützt Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Lebenslagen im Kontext der Lernförderung. Fakt ist, dass in diesem Spannungsverhältnis zwar Initiativen gestartet wurden, aber die strukturelle Benachteiligung und Ausgrenzung nicht überwunden werden konnte. Auch die im Bochumer Memorandum 2011 geforderte sprachliche Integration bleibt weiterhin eine wichtige Herausforderung.

Vielfalt und Migration als pädagogische Herausforderung

Institutionelle Diskriminierung in den Bildungsinstitutionen abbauen

Über mehrere Jahre hinweg wurden die unzureichenden Schulerfolge von Kindern mit Migrationshintergrund allein den Kindern und deren Eltern – und nicht der Schule als Institution – zugeschrieben. Die ErziehungswissenschaftlerInnen Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke haben 2009 in ihrer Untersuchung „Institutionelle Diskriminierung – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ belegt, dass Schule als Institution Teil eines Diskriminierungsnetzes ist. Dabei liegt die institutionelle Diskriminierung nicht unbedingt an den Lehrkräften, die vorurteilshaft agieren und Ausgrenzung praktizieren, sondern vielmehr auch an der Art und Weise, wie Schule als Institution organisiert ist und strukturelle Diskriminierung entlang des Kriteriums „ethnische Zugehörigkeit“ legitimiert. Gerade Vorurteile, stereotype Denkweisen und andere Erscheinungsformen der Diskriminierung können schwere Folgen für das Leben der davon Betroffenen haben. Vor allem betrifft dies die ZuwandererInnen, die aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Sprache, Religion und ihres Geschlechts Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind.
Gesellschaftspolitisch ist zu erkennen, dass Diskriminierung erst durch das Zusammenwirken von politischen Entscheidungen und organisatorischen Handlungszwängen entsteht. Ohne ein politisches und pädagogisches Umdenken steht auch keine längerfristige Perspektive in Aussicht. So vertritt auch der Bildungsbericht 2016 die Auffassung, dass Bildungseinrichtungen generell der Benachteiligung aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit entgegenwirken müssen, indem diese Einrichtungen gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit fördern.

Vielfalt und Migration als pädagogische Herausforderung

Flucht und geflüchtete Menschen als Herausforderung für die Bildung

Ebenso stellt gegenwärtig die Bildungsintegration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen für die Schulen und Bildungseinrichtungen eine wichtige pädagogische Herausforderung dar. Hier besteht jedoch das grundlegende Problem darin, dass die Schulen vor allem durch die erhöhten Zahlen geflüchteter SchülerInnen einerseits belastet sind, andererseits aber geflüchtete Kinder und Jugendliche nach Ankunft monatelang in den zentralen Flüchtlingsunterkünften keinerlei schulische Zugänge haben. Deshalb haben in NRW viele Kommunale Integrationszentren mit Unterstützung der Landeskoordinierungsstelle ein Konzept zur schulischen Integration von SeiteneinsteigerInnen (SE) entwickelt. Im Rahmen dieses Konzepts führen die Kommunalen Integrationszentren Beratungsgespräche mit den Schulen vor Ort, damit entsprechende Schulempfehlungen ausgesprochen werden. Parallel dazu bieten die Wohlfahrtsverbände und soziale Einrichtungen in Unterkünften und in Schulen Sprachkurse und Begleitung für Geflüchtete an. Hier ist vor allem die Landespolitik herausgefordert, flächendeckend die schulischen Zugänge zu gewährleisten und das gesamte Schulsystem auf die neuen Entwicklungen anzupassen und hierfür notwendige Ressourcen bereitzustellen.
Gerade die Schule als pädagogische Institution steht derzeit verstärkt vor der Aufgabe, sich der Vielfalt und Migration zu stellen und sich dem Zeitgeist entsprechend zu einer Institution der (Einwanderungs-)Gesellschaft zu wandeln, Veränderungen in der Zusammensetzung der gesellschaftlichen Transformation, dem demografischen Wandel und den neuen Migrations- und Fluchtbewegungen aufzugreifen und einzubinden. Daher muss der Erfolg einer Schule auch an ihrem Beitrag zur Angleichung der Bildungsbeteiligung und der Bildungsgerechtigkeit für alle gemessen werden. Eine solche pädagogische Arbeit muss auf Langfristigkeit angelegt sein. Das setzt voraus, dass – wie im Bochumer Memorandum gefordert – die nordrhein-westfälische Landesregierung durch breiter angelegte Initiativen und Programme die strukturellen Barrieren abbaut und die Bildungsbeteiligung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund kontinuierlich fördert. Hierzu gehört auch die migrations- und diversitäts-sensible Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, SchulleiterInnen und  MitarbeiterInnen in den Bildungseinrichtungen.

Dr. Kemal Bozay, Vertretungsprofessor im Fachbereich für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund

Fotos: zettberlin, sör alex, chris-up, suze / photocase.de

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