Philosphieren in der Grundschule: Wertebildung fest verankern

Philosophisches Ersatzfach in Sicht

Es tut sich was im Fächerkanon der Grundschulen in NRW: Bald ist wohl mit der Einführung eines philosophischen Ersatzfachs für diejenigen Grundschüler*innen zu rechnen, die nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen. Im Dezember 2017 befasste sich bereits der Schulausschuss des Landtags in einer Anhörung mit dieser Frage. Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Anfang Dezember 2017 schreckte die IGLU-Studie die Öffentlichkeit auf : Fast jede*r fünfte Viertklässler*in (18,9 Prozent) verfügt nicht über eine ausreichende Lesekompetenz. Eine andere, in der Öffentlichkeit so nicht bekannte Zahl müsste mindestens ein ebensolches Entsetzen auslösen: Mehr als jede*r sechste Viertklässler*in in NRW (17,5 Prozent) erhält während der Grundschulzeit keine gezielte Förderung der Orientierungskompetenz in wichtigen Lebensfragen, keine explizite Bildung in persönlichen und gesellschaftlichen Werten. Denn diese Schüler*innen nehmen am konfessionellen Religionsunterricht, in dem unter anderem Fragen der Grundorientierung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt aufgegriffen und aus der jeweiligen Glaubensperspektive beantwortet werden, nicht teil. Diese Schüler*innen erhalten in NRW – anders als in acht anderen Bundesländern – keinen adäquaten Ersatzunterricht, sondern werden in anderen Lerngruppen irgendwie beaufsichtigt, in Auffanggruppen irgendwie beschäftigt oder haben schlicht unterrichtsfrei.

Konfessioneller Religionsunterricht verliert an Bedeutung

Diese Art von „Unterrichtsausfall“ ist das Zwischenergebnis einer längeren Entwicklung. Die amtlichen Schulstatistiken des Schulministeriums offenbaren: Der Anteil der Grundschüler*innen ohne Bekenntnis ist von 12,5 Prozent im Schuljahr 2006 / 2007 auf 18,9 Prozent im Schuljahr  2016 / 2017 gestiegen. Im vergangenen Schuljahr waren zudem 18,7 Prozent der Grundschulkinder islamischen Glaubens. Und weitere 6,3 Prozent der Kinder gehörten zu kleineren Religionsgemeinschaften, für die in vielen Fällen kein eigener Religionsunterricht erteilt werden kann. Vom konfessionellen Religionsunterricht abgemeldet sind hingegen lediglich 0,25 Prozent der Grundschulkinder. Diese Beanspruchung der negativen Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes ist also nicht auf innerschulische, sondern weit mehr auf gesamtgesellschaftliche Prozesse der Säkularisierung und Entchristlichung zurückzuführen.
Dass der konfessionelle Religionsunterricht in NRW tatsächlich immer mehr an quantitativer Bedeutung verliert, ist für alle Schulformen und Jahrgangsstufen zu beobachten. In den Grundschulen wird Religion in mittlerweile acht Konfessionen erteilt, wobei der Anteil des evangelischen und katholischen Unterrichts zusammen mehr als 98 Prozent umfasst. Ob eine solche Separierung der Schüler*innenschaft mit Integration und Inklusion verträglich ist, kann sehr bezweifelt werden. Grundgesetz und Landesverfassung lassen aber derzeit kein konfessionsübergreifendes und weltanschaulich neutrales Fach für alle anstelle eines bekenntnisorientierten Unterrichts zu.
Die Beteiligung am konfessionellen Religionsunterricht betrug im Schuljahr 2011 / 2012 noch 87,9 Prozent. Sie sank dann in nur fünf Jahren auf 82,5 Prozent. Die Differenz zu 100 Prozent ist der oben beklagte „Unterrichtsausfall“ von 17,5 Prozent. Diese einfache Rechnung ist möglich, weil die ministerielle Stundentafel für alle Schüler*innen aller Jahrgangsstufen aller allgemeinbildenden Schulformen konfessionellen Religionsunterricht vorsieht.

Philosophieunterricht bislang nicht als adäquater Ersatz etabliert

Zum Vergleich: Vom Schuljahr 2011 / 2012 bis 2016 / 2017 ging der Besuch des konfessionellen Religionsunterrichts an Realschulen von 74,9 auf 62 Prozent zurück. Hier beträgt der „Unterrichtsausfall“ aber nicht 38 Prozent, denn dort wird wie in anderen Schulformen der Sekundarstufe I als Ersatz für den konfessionellen Religionsunterricht vermehrt Praktische Philosophie unterrichtet. Die Beteiligung daran ist allein im genannten Zeitraum von 13,5 auf 22,4 Prozent gestiegen. Aber Vorsicht: Diese Zunahme reicht bei Weitem nicht aus, denn auch hier bleibt noch eine erschreckende Lücke, die in den vergangenen Jahren sogar noch gewachsen ist: Im Schuljahr 2016 / 2017 hatten 15,6 Prozent der Realschüler*innen in NRW weder Unterricht in Religionslehre noch in Praktischer Philosophie. 2011/2012 waren es noch 11,6 Prozent.
Es kann also durchaus geschehen, dass ein Grundschulkind ohne Religionsunterricht, das derzeit zur Realschule wechselt, auch dann noch keine explizite Förderung seiner Orientierungskompetenz erhält. Diesem Kind fehlen dann bis zum Sekundarabschluss bis zu 800 Fach-Unterrichtsstunden. Besucht das Kind dann die gymnasiale Oberstufe, kann es in aller Regel Philosophie als Ersatzfach belegen. Ganz anders sieht es im Falle einer beruflichen Ausbildung aus: Das duale Ausbildungssystem kennt aus mir unerschließlichen Gründen überhaupt kein Ersatzfach für den konfessionellen Religionsunterricht. Praktische Philosophie ist nur für die vollzeitschulischen Bildungsgänge an Berufskollegs vorgesehen, dort aber kaum etabliert. Seit 2016 könnte es immerhin als Fach des Berufskolleglehramts studiert werden. Aber dies ist bisher an keiner der NRW-Hochschulen tatsächlich möglich. Praktische Philosophie gibt es zurzeit nur an ungefähr der Hälfte der Berufskollegs und fristet dort ein eher kümmerliches Dasein.

Kirchen ermöglichen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht

Um die Wertebildung im Grundschulbereich und in der Sekundarstufe I zu sichern, bemühen sich die beiden großen Kirchen derzeit den Religionsunterricht zu stärken. Dafür haben sich vier der fünf katholischen (Erz-)Bistümer mit den drei evangelischen Landeskirchen im Herbst 2017 auf die Möglichkeit konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts verständigt. Demnach soll es ab dem Schuljahr 2018 / 2019 möglich sein, in einer konfessionell gemischten Lerngruppe abwechselnd evangelische und katholische Religion bekenntnisorientiert zu unterrichten. Das NRW-Schulministerium hat mit einem Runderlass vom 17. August 2017 dazu den rechtlichen Rahmen gestaltet und die Einführung eines solchen Unterrichts unter anderem von der Beteiligung der jeweiligen Schulkonferenz abhängig gemacht.
Ob diese Maßnahme das anvisierte Stärkungsziel erreichen kann, ist fraglich. Das Erzbistum Köln, das sich am Koop-Unterricht nicht beteiligen will, äußert auf seiner Webseite entsprechende Zweifel: Man teile zwar die Sorge, dass mancherorts die Zahl christlicher Schüler*innen äußerst gering sei; der konfessionell-kooperative Religionsunterricht könne aber gerade dieses Problem nicht lösen, denn seine Organisation folge dem etablierten Religionsunterricht. Dieses Modell führt also nicht zu einer stärkenden Erweiterung und damit auch nicht zu einer Verringerung des oben beklagten „Unterrichtsausfalls“.

Landtag unterstützt Forderung nach einem neuen, ergänzenden Fach

Aus dem NRW-Landtag gibt es seit der vergangenen Legislaturperiode andere Initiativen: In einem Antrag hatte die FDP-Fraktion die Landesregierung bereits 2014 aufgefordert, „ein Konzept für die Einführung eines nichtkonfessionellen Werteunterrichts an Grundschulen vorzulegen“. Dieser Antrag wurde abgelehnt; angenommen aber wurde ein Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und GRÜNEN. Danach „ist perspektivisch ein Angebot an Gemeinschaftsgrundschulen zu entwickeln für Schülerinnen und Schüler, die keinem Bekenntnis angehören oder deren Eltern für ihre Kinder keine Unterrichtung in einem Bekenntnis wünschen, analog zum Fach Praktische Philosophie in der Sekundarstufe I“.
Der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-gelben Landesregierung greift diese Gedanken auf: „Daher werden wir Ethikunterricht an Grundschulen ermöglichen.“ In diesem Sinne formulierten die GRÜNEN den Antrag „Philosophie verleiht Flügel“. In einer Anhörung des Schulausschusses am 6. Dezember 2017 teilten alle eingeladenen Expert*innen der beiden Kirchen, der Universitäten Köln und Münster sowie der PRIMUS-Schule Berg Fidel in Münster  das Anliegen dieses Antrags: „Die Einrichtung eines Unterrichtsfachs ‚Philosophieren mit Kindern‘ (…) an den Grundschulen des Landes ist als Ergänzung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts notwendig.“
Dass ein neues Fach entstehen soll, scheint klar zu sein, Fragen zum „Wie“ sind noch offen: Wie können möglichst schnell Lehrkräfte für dieses Fach nachqualifiziert und ausgebildet werden? In der Anhörung wurde deutlich, dass die Universitäten Köln und Münster dazu bereits Vorüberlegungen angestellt haben. Wie soll dieses Fach in den Stundenplan der Grundschulen integriert und gegebenenfalls mit dem Religionsunterricht verzahnt werden? Dazu sind die Vorstellungen noch sehr vage. Wie soll das neue Fach heißen? Die Vorschläge reichen von „Praktische Philosophie“ – wie in der Sekundarstufe I – über „Ethik“, „Philosophieren mit Kindern“ bis zu „Kinder philosophieren“. Entscheidender als diese Frage wird der bald zu entwickelnde Lehrplan sein.
Wie geht es nun weiter? Sigrid Beer von den GRÜNEN teilte auf Anfrage mit, dass sie sich um einen gemeinsamen Antrag ihrer Fraktion mit denen der CDU, SPD und FDP bemühen werde, der dann bereits in der nächsten Schulausschusssitzung Ende Februar 2018 thematisiert werden könnte. Das lässt hoffen!


Prof. Dr. Klaus Blesenkemper
Professor (i. R.) für Fachdidaktik Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Foto: obeyleesin / photocase.de

 

Fachgruppe Grundschule der GEW NRW

Ein neues Fach braucht gute Vorbereitung!

Der Antrag der GRÜNEN und der Koalitionsvertrag von CDU und FDP eröffnen mit der Forderung nach einem neuen Ersatzfach eine neue Baustelle in der Primarstufe – ohne dass bereits begonnene Projekte erfolgreich umgesetzt worden wären. Das muss gut begründet und noch besser vorbereitet werden.
Vor der Einführung eines bekenntnisunabhängigen Fachs auch in den Grundschulen – in Anlehnung an „Praktische Philosophie“ in der Sekundarstufe I und II – müssen drei grundsätzliche Fragen geklärt werden:

  • Wie wird das Fach in die Stundentafel eingebunden – als neunte Gruppe zu den acht bisher zugelassenen Religionsgruppen oder als neues Fach für alle?
  • Welche Inhalte sollen vermittelt werden – wie sieht der Lehrplan aus?
  • Wer unterrichtet dieses Fach und wie werden die Kolleg*innen dafür aus- und fortgebildet?

Jedes neue Fach führt zu einem neuen Bedarf an gut ausgebildeten Lehrkräften, die es jedoch gerade in den Grundschulen auch in den nächsten Jahren nicht geben wird. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, alte Fehler nicht zu wiederholen: So müssen vor Einführung des neuen Fachs die genannten Fragen nicht nur beantwortet, sondern auch die konkrete Umsetzung in den Schulen gut vorbereitet sein. An diesem Prozess wird sich die GEW-Fachgruppe beteiligen und dabei die Erfahrungen der Schulen aufgreifen, in denen viele Schüler*innen nicht am angebotenen Religionsunterricht teilnehmen. Und sie wird auch in die acht Bundesländer schauen, in denen das Fach unter unterschiedlichen Bezeichnungen – als „Ethik“, „Philosophieren“ oder „Werte und Normen“ – und Bedingungen bereits eingeführt wurde.
Die Diskussion in der Fachgruppe hat begonnen und wird fortgeführt.

Rixa Borns
Leitungsteam der Fachgruppe Grundschule der GEW NRW

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Kommentare (1)

  • Jonas Grutzpalk Endlich kommt Bewegung in die Debatte! Bislang wurde mit Konfessionsfreien immer so umgegangen, dass ihnen unterstellt wurde, sie seien nur „aus Versehen“ nicht getauft und deswegen intrinsisch bestimmt brennend interessiert an den Kenntnissen sind, die sie im Religionsunterricht (nun endlich) erfahren dürften. Die Erkenntnis, dass Konfessionsfreiheit aber eine Realität sui generis ist, scheint der Bildungspolitik in NRW gerade erst zu dämmern.
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